Ein einziger Fall nur!
Fijáte 283 vom 23. April 2003, Artikel 1, Seite 1
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Ein einziger Fall nur!
An der 59. Session der Menschenrechtskommission der UNO in Genf waren nebst VertreterInnen der guatemaltekischen Regierung auch Mitglieder verschiedener Menschenrechtsorganisationen anwesend, um die Situation der Menschenrechte aus ihrer Perspektive zu schildern. Der Delegation gehörten u.a. María Eugenia Morales de Sierra, stellvertretende Menschenrechtsombudsfrau und Mario Polanco von der Gruppe gegenseitiger Hilfe (GAM) an. Die Fijáte-Redaktion hatte Gelegenheit, mit den beiden zu sprechen. Frage: Mit welchen Vorschlägen und Forderungen seid ihr nach Genf gekommen? María Eugenia Morales de Sierra: Ich wurde vom Menschenrechtsprokurator Sergio Morales hierher geschickt, um als Beobachterin an der UNO-Session teilzunehmen, an der die Situation der Menschenrechte in Guatemala behandelt wird. Meine Aufgabe ist, unseren Vorschlag an die guatemaltekische Regierung über die Schaffung eines Untersuchungsausschusses über illegale paramilitärische Verbände und geheime Sicherheitstrupps auf dieser internationaler Ebene vorzustellen. In der CICIACS, wie die Kommission abgekürzt genannt wird, sollen ja nebst der Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) und der guatemaltekischen Regierung auch zwei VertreterInnen der UNO präsent sein. Ein weiterer Grund herzukommen ist, dass das Menschenrechtsprokurat (PDH) ja eine wichtige Rolle übernehmen soll, wenn sich die UNO-Mission für Guatemala (MINUGUA) Ende des Jahres zurückzieht. Dazu brauchen wir jedoch finanzielle Mittel, welche zu beantragen zu den Motiven meiner Reise gehört. Unser Aussenminister, Edgar Gutiérrez, hat die Entsendung eines Repräsentanten oder einer Repräsentantin des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte nach Guatemala gefordert, damit weiterhin eine Verifizierung der Menschenrechtssituation in unserem Land garantiert ist, auch nach dem unmittelbaren Weggang von MINUGUA. Seitens der PDH unterstützen und begrüssen wir diese Forderung, wünschen uns aber eine klare Definition dieses Mandats. Mario Polanco: Unsere Delegation nach Genf ist zusammengesetzt aus VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen, der PDH und der katholischen Kirche, die sich seit Menschengedenken für die Menschenrechte in unserem Land einsetzt. Die Heterogenität unserer Delegation, die gleichzeitig eine Homogenität darstellt, da wir gemeinsam und koordiniert an den selben Themen arbeiten, ermöglicht es, unsere Beziehungen auf internationaler Ebene zu verstärken und zu vertiefen. Wie erwähnt kommen wir mit der konkreten Forderung nach der Entsendung einer Vertretung des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte nach Guatemala. Wir sind der Meinung, dass MINUGUA ihren Auftrag erfüllt hat und sich zurückziehen soll. Es ist an der Zeit, dass die PDH und die Menschenrechtsorganisationen dahingehend gestärkt werden, dass sie selber die Einhaltung und Überwachung der Menschenrechte garantieren können. Während dieser Übergangsphase ist in unseren Augen die Präsenz des UNO-Hochkommissariats unumgänglich. Dessen Anwesenheit macht aber nur Sinn, wenn Aufgaben und Kompetenzen klar definiert sind. Seine Aufgabe sollte darin bestehen, die Koordination aller Institutionen und Organisationen, die mit Menschenrechten zu tun haben, sicherzustellen. Aber und das ist der grosse Unterschied zum Mandat von MINUGUA es muss von Anfang an mitbedacht werden, dass dieses Mandat und die privilegierte Position, die daraus resultiert, mittelfristig an die PDH übergeben werden muss. MINUGUA hat sich während ihrer neun Jahre Anwesenheit im Land nie darum bemüht, die PDH oder die sozialen Organisationen zu stärken. Und jetzt, wenige Monate bevor sie sich zurückzieht, will sie in einigen Kursen und Workshops all diese Verantwortung an uns übergeben. Ein weiterer Grund unserer Reise ist die CICIACS. Wobei es uns Menschenrechtsorganisationen nicht nur darum geht, die internationale Gemeinschaft über die CICIACS zu informieren, sondern darum, erste konkrete Schritte einzuleiten. Stichwort Finanzen: Es liegt uns viel daran, dass auch europäische Länder die CICIACS finanziell unterstützen, und nicht nur die USA. Frage: Worin seht ihr den Sinn von UNO-Missionen und Kommissionen wie der CICIACS? MINUGUA ist nun seit rund 8 Jahren in Guatemala und man kann beim besten Willen nicht sagen, dass sich die Menschenrechtssituation verbessert hätte. M.P.: MINUGUA hat verschiedene Etappen durchgemacht, wovon einige sehr positiv waren. Die Stärke oder Schwäche von MINUGUA hing immer stark mit ihrem jeweiligen Delegationsleiter zusammen. Unter ihrem ersten Leiter blühte sie auf und konnte dieses Niveau auch unter dem zweiten Leiter halten. Die Folge davon war, dass sich die PDH zurückgezogen hat und sich gedacht hat "Soll sich doch MINUGUA um die Menschenrechtsverletzungen kümmern". Unter dem dritten Missionsleiter, Jean Arnault, fand ein Rückschritt statt. In diese Zeit fiel z.B. der "Fall Mincho", der MINUGUA in ein ziemlich schlechtes Licht rückte. Der Nachfolger von Arnault, Gerd Merrem, war eine totale Katastrophe. Er hat weder zu den Organisationen noch zur PDH den Kontakt gesucht. Der aktuelle Leiter, Tom Königs scheint mir wiederum ein sehr fähiger Mensch zu sein, aber sein Job besteht nur noch darin, den Abzug von MINUGUA vorzubereiten. Jedoch geht es ja hier nicht darum, die Vergangenheit zu beklagen, sondern wir müssen schauen, was wir daraus lernen können: Wenn nun das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte nach Guatemala kommt, muss es auch personell absolut unabhängig sein von MINUGUA. Es muss von Anfang an und für alle klar sein, dass das UNO-Hochkommissariat nicht dazu hier ist, die Arbeit der guatemaltekischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen zu übernehmen, sondern um deren Arbeit zu stärken. Und zwar nicht nur die Organisationen in Guatemala-Stadt oder in den Departementshauptstädten. Es geht auch um die Stärkung der Organisationen in den Dörfern, was bisher immer vernachlässigt wurde. Und die einzige staatliche Institution, deren Mandat geographisch und inhaltlich so weit reicht, ist die PDH. Doch sie steckt in grossen finanziellen Schwierigkeiten und ist darauf angewiesen, mit den sozialen Organisationen Allianzen einzugehen, um von deren Kapazitäten und Mobilisierungsfähigkeiten zu profitieren. In Huehuetenango z.B. gibt es bereits einen Kooperations-Vertrag PDH, GAM und der Sozialdiözese der katholischen Kirche. Die PDH stellt dabei am wenigsten Personal oder sonstige Ressourcen zur Verfügung, und ihr Personal hat bezüglich Menschenrechtskenntnissen noch einiges aufzuholen. M.-E. de S.: Mario und ich kennen uns seit den 90er-Jahren. Er arbeitete bereits in der GAM und ich hatte eine Stelle in der damaligen PDH, die ich dann aber später wieder aufgab. Nach oben |
Heute kommen wir wieder zusammen und bringen je eine Menge individueller und gemeinsamer Erfahrungen mit. Dazu gehört sicher die Erkenntnis, dass die Straflosigkeit nur bekämpft werden kann, wenn es Veränderungen auf struktureller Ebene gibt. Das Menschenrechtsprokurat nimmt auf struktureller Ebene eine wichtige Rolle ein, kann sie doch nebst den Untersuchungen, die sie führt, auch Anklägerin sein. Dieses Mandat der PDH gilt es auszunutzen und zu stärken, und dazu dienen uns sicher die internationalen Institutionen und deren Berichte. Frage: Maria-Eugenia, du hast vorhin gesagt, dass du hier bist, um Geld für die Arbeit der PDH aufzutreiben. Wie willst du die Internationale Gemeinschaft davon überzeugen, dass sie Geld investieren soll, wenn die Gefahr besteht, dass die PDH unter einem nächsten Leiter wieder ganz andere Wege einschlägt? M.-E .de S.: Der aktuelle Ombudsmann, Sergio Morales, hat sich dazu verpflichtet, die Ausbildung der MitarbeiterInnen der PDH zu verbessern. Dazu gehört u.a. die Erarbeitung von Stellenprofilen. Zur geplanten Umstrukturierung gehören auch interne Weiterbildungen. Im Moment haben wir ein Jahresbudget von 10'000 Quetzales (ca. 1200 US-$) für Organisationsentwicklung und Weiterbildung für die ganze Institution! Diese 10'000 Quetzales reichen vielleicht knapp, damit der Ombudsmann und seine engsten MitarbeiterInnen grob die gemeinsamen Arbeitsziele definieren können. Wir erhoffen uns, dass nach dem Weggang von MINUGUA dieser Budgetposten der PDH etwas mehr Beachtung erfährt. Im Rahmen des Weggangs von MINUGUA ist uns natürlich sehr daran gelegen, noch möglichst viel von ihr zu profitieren, und die Übernahme einzelner Arbeitweisen ist für unsere MitarbeiterInnen bereits eine Art Weiterbildung. Weiterbildung und Spezialisierung muss aber institutionalisiert werden. Momentan befinden wir uns in einem Teufelskreis: Die Bevölkerung hat kein Vertrauen in uns, weil unsere MitarbeiterInnen zuwenig ausgebildet sind, und wir haben kein Geld, um ihnen diese Ausbildung zu ermöglichen. Frage: Die USA stehen voll hinter dem Projekt der CICIACS. Was steckt da für ein Interesse dahinter? M.P.: Die Idee der CICIACS nahm im Januar 2002 in Europa Gestalt an, bei einem Treffen verschiedener VertreterInnen guatemaltekischer Organisationen in Den Haag. Als wir nach Guatemala zurückkehrten, haben wir zu recherchieren begonnen, um herauszufinden, ob eine solche Kommission irgendwo schon einmal erwähnt wurde. Wir haben den Bericht der Wahrheitskommission durchgekämmt und nichts gefunden. Im Friedensabkommen über die Menschenrechte fanden wir einen Hinweis. Dann haben wir erfahren, dass es in El Salvador eine solche Kommission gegeben hat, und diese diente uns bis hin zum Namen als Vorbild. Wir begannen dann, im Rahmen unserer Reisen ins Ausland mit anderen Personen über die Idee zu sprechen. Als erste hat Helen Mack in Washington den dortigen Menschenrechtsorganisationen das Projekt vorgestellt, und diese waren sofort begeistert. Auch die Gespräche mit USamerikanischen RegierungsvertreterInnen waren erfolgreich. Wir lösten ihnen nämlich ein grosses Problem: Ihre Angst, dass über Guatemala ein Haufen 'Terroristen' in ihr Land kämen. Ein Bin Laden, falls er noch lebt, könnte locker einem guatemaltekischen Ex-General ein paar Millionen auf den Tisch werfen, und dieser organisiert ihm so viele guatemaltekische Pässe wie er nur will. Auch in Guatemala gibt es eine Reihe kleiner Monster, die von den USA grossgezogen und gehätschelt wurden und die sie jetzt nicht mehr unter Kontrolle haben. Nun suchen sie einen Weg, um diese Leute auszuschalten, und da kommt ihnen unser Vorschlag einer CICIACS gerade gelegen. In diesem Fall haben sie uns als ihre Alliierten auserwählt...Ihre Begeisterung ging soweit, dass Hamilton, der Anfang des Jahres als neuer US-Botschafter nach Guatemala kam, begann, für unser Projekt Lobbyarbeit zu machen. M.E. de S.: Die Frage der US-amerikanischen Interessen ist auch auf institutioneller Ebene sehr wichtig. Die PDH muss per Verfassung und Mandat unabhängig sein, um ihre Arbeit objektiv machen zu können. Deshalb ist es uns auch wichtig, dass die internationale Gemeinschaft nicht nur finanziell sondern auch moralisch hinter der CICIACS steht. Dass die Vereinigten Staaten unser Vorhaben unterstützen, ist natürlich sehr wichtig, soll es erfolgreich sein. Frage: Das klingt ja alles wunderbar, aber kürzlich wurde die Meldung veröffentlicht, dass die PDH und Edgar Gutiérrez am 13. März einen Vertrag über das Funktionieren der CICIACS unterzeichneten und kurz darauf im Kongress ein Gesetzesentwurf vorlag, der, bei Annahme, diesen Vertrag nichtig machen würde (siehe ¡Fijáte! 282). Ist das der Beginn eines administrativen Geplänkels, das dazu führt, dass die CICIACS nie zu arbeiten beginnt? M.P.: Wir haben im Vorfeld versucht, alle möglichen und unmöglichen Szenarien durchzuspielen, die der CICIACS in den Weg gestellt werden könnten. In Guatemala gibt es drei Möglichkeiten, um ein Gesetz in Kraft zu setzen: Per Gesetzesvorschlag, der vom Kongress angenommen werden muss, per Regierungsabkommen oder per Legislativabkommen. Wir wussten, dass es ein ziemliches Risiko sein würde, 113 Personen von denen einige ins organisierte Verbrechen involviert sind einen Gesetzesvorschlag zu präsentieren, weil im Kongress nicht ein Gesetz als ganzes, sondern Artikel für Artikel angenommen wird, und diese können einzeln modifiziert werden. Bei einem Regierungsabkommen hingegen reicht es, wenn der Präsident das Abkommen unterschreibt, am nächsten Tag im Regierungsorgan publiziert, und schon tritt das Gesetz in Kraft. Das Problem mit einem Regierungsabkommen ist, dass am näch- sten 14. Januar ein neuer Präsident das Amt antritt. Wenn diesem ein Abkommen nicht passt, unterschreibt er einfach ein weiteres Dokument und setzt es damit ausser Kraft. Deshalb setzen wir auf das Legislativabkommen: Dieses wird auch vom Kongress angenommen, aber es wird als Ganzes verabschiedet. Was am 13. März versucht wurde und ich sage das als Vertreter einer sozialen Organisation, María Eugenia ist da vielleicht anderer Meinung ist Teil der Manipulationen, an die wir seit langem gewöhnt sind. Ich traue Gutiérrez nicht uneingeschränkt und kann mir gut vorstellen, dass er den Vertrag vom 13. März mit der PDH unterschrieben hat, um hier in Genf gut dazustehen. Unterdessen haben wir aber auch hier in Genf soviel Druck ausgeübt, dass er seinen ominösen Gesetzesentwurf wieder zurückziehen musste. Jetzt sieht es so aus, als ob Gutiérrez mit der UNO und der OAE ein Dokument erarbeitet, das dem Kongress als Legislativabkommen unterbreitet werden soll, wie wir uns das vorgestellt haben. Frage: Es heisst, dass es schon über 70 Fälle gibt, die der CICIACS zur Untersuchung vorgelegt werden sollen. Um was für Fälle handelt es sich dabei? M.P.: Diese über 70 Fälle müssen erst noch dokumentiert werden. Wahrscheinlich sind es sogar mehr. Dann muss entschieden werden, ob sie sich eignen, der CICIACS vorgelegt zu werden. Um diese Arbeit zu machen, haben wir die sechs Monate Zeit, die es noch dauern wird, bis die CICIACS zu arbeiten beginnt. M.-E. de S.: Diese 77 Fälle sind eine Auswahl aller Anzeigen, die von der PDH entgegengenommen wurden. Natürlich gäbe es noch viel mehr Fälle. Aber für mich geht es nicht um die Anzahl der Fälle, die wir vorlegen können. Mein höchstes Glück wäre es, einen einzigen Fall durchziehen zu können! Ein Fall, an dem wir die klandestinen Strukturen aufzeigen können, der zeigt, wer die Verantwortlichen sind, ein Fall, der korrekt geführt wird und der uns erlaubt, demokratisch und juristisch die Personen zu verurteilen, die ausserhalb des Gesetzes funktionieren. Dies wäre ein grosser Sieg für den guatemaltekischen Staat und wäre der Beginn einer Ära, in der alle Welt wüsste, dass in Guatemala solche Verbrechen verfolgt und bestraft werden. Ein einziger Fall nur! |
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