"Der Privatsektor braucht keine starken Parteien - wir schon"
Fijáte 435 vom 20. Mai 2009, Artikel 1, Seite 1
Original-PDF 435 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 --- Nächstes Fijáte
"Der Privatsektor braucht keine starken Parteien - wir schon"
Wenn man von einer guatemaltekischen Institution sagen könnte, sie wäre die exklusive Schatzkammer (feudo) der wirtschaftlichen Elite, dann zweifellos vom Finanzministerium. Aus diesem Grund ist allein die Tatsache, dass jemand wie Carlos Barreda in eine hohe Position innerhalb dieses Ministeriums gelangt, schon bemerkenswert. Altgedientes Mitglied des Kollektivs der sozialen Organisationen (COS), ist der aktuelle Vize-Finanzminister einer der wichtigsten Vertreter der handvoll linker Funktionäre, die Alvaro Colom in seine Regierung aufgenommen hat. Im folgenden Interview, das in Inforpress Centroamericana Nr. 1797 vom 30. April 2009 erschienen ist, insistiert Barreda auf der Notwendigkeit einer Steuerreform und weist darauf hin, dass die Regierung daran sei, eine "Gegenrevolution zur Politik der fundamentalistischen Marktwirtschaft" der letzten Jahre zu starten. Frage: Das Finanzministerium hat die Möglichkeit angekündigt, dass wegen der Krise der Staat möglicherweise ab nächstem September keine Löhne mehr bezahlen kann. Ist es so schlimm? Carlos Barreda: Die Zahlen, die wir am 31. März hatten, zeigen einen Rückgang der Steuereinnahmen von rund 186 Mio. US-$. Das ist ein immenser Rückgang, die Verluste von Januar und Februar waren eindrücklich - so etwas ist noch nie vorgekommen. Guatemala ist ein finanziell sehr schwaches Land mit geringen Steuereinnahmen, und die Spielräume, die der Staat hat, um eine antizyklische Finanzpolitik zu betreiben, sind sehr begrenzt. Wir sind hier nicht in Chile, Brasilien oder Mexiko, Länder mit grossen Devisenreserven, die in der aktuellen Situation beeindruckende Ausgabenprogramme in Gang bringen. Frage: Und in Guatemala soll es nicht mal genug Geld haben, um die laufenden (Staats-)Kosten zu decken? C.B.: Es ist ein Szenarium, das durchaus eintreten kann, wenn nichts unternommen wird. Deshalb schlagen wir ein paar Massnahmen vor: Als erstes muss Guatemala seine Verschuldung erhöhen. Wir haben eine Stärke, und das ist unsere makroökonomische Stabilität. Unser Bankensystem ist nicht so sehr mit dem internationalen Finanzsystem verwoben, was uns vor Schlimmerem bewahrt hat. Die Kanäle, über welche die Krise unser Land erreicht, sind der Handel und die Geldrücküberweisungen der MigrantInnen. Dank dieser Stärke im Makrobereich und einer niedrigen Verschuldung hat Guatemala einen gewissen Spielraum, um noch etwas Schulden aufzunehmen. Deshalb hat das Finanzministerium vorgeschlagen, Schuldscheine in der Höhe von 223 Mio. US-$ auszustellen. Ausserdem sind wir daran, mit der Weltbank ein Darlehen über 300 Mio. US-$ auszuhandeln, von denen wir die Hälfte dieses Jahr und die Hälfte nächstes Jahr einsetzen werden… Somit hätten wir dieses Jahr rund 370 Mio. US-$, um die Auswirkungen der Krise etwas abzufedern. Frage: Es soll auch gespart werden… C.B.: Tatsächlich haben wir auch ein Sparprogramm entwickelt (programa de austeridad). Aber sich verschulden und sparen allein genügt nicht, um die Löcher im Budget zu stopfen. Wir haben auch Massnahmen vorgeschlagen für die Stärkung der Steuerbehörden, für die Bekämpfung von Steuerflucht und Geldschmuggel. Damit wollen wir die Einnahmenseite verbessern. Es ist also eine Mischung verschiedener Aktivitäten: Die Steuereinnahmen erhöhen, Schulden aufnehmen und sparen, wo es geht. Wenn wir zusätzlich zu diesen Massnahmen das Bauprojekt der Franja Transversal del Norte (FTN) umsetzen können, was uns auch nochmals 200 Mio. einbringt, könnte alles zusammen schon dazu beitragen, dass die Wirtschaft wieder etwas in Gang kommt. Und wenn dann einmal das Gesetz über die öffentlich-privaten Allianzen (Private-Public-Partnership) angenommen ist, können wir für Infrastrukturbauten Verträge mit privaten Investoren machen und so Teile des Budgets freisetzen. Frage: Erlauben solche Massnahmen tatsächlich eine antizyklische Ausgabenpolitik oder kann man damit nicht bloss knapp die laufenden Kosten decken? C.B.: Für lateinamerikanische Länder ist es sehr schwierig, eine antizyklische Finanzpolitik zu betreiben. Uns geht es in erster Linie darum, die laufenden Ausgaben decken zu können, aber wir legen grossen Wert darauf, die Sozialausgaben zu schützen, speziell die Programme des Rats für soziale Kohäsion. Die Idee von an Bedingungen geknüpften Sozialleistungen, z.B. Mi Familia progresa, sind von strategischer Bedeutung für uns, denn sie decken die Bereiche Bildung, Gesundheit und Ernährung ab. Auf der anderen Schiene müssen Arbeitsplätze geschaffen werden durch den Bau von Infrastrukturprojekten. Und wir müssen die Nahrungsmittelproduktion reaktivieren. Aber all unsere Bemühungen werden durch die niedrigen Ausgaben beschränkt, Guatemala hat öffentliche Ausgaben, die bloss 14% des gesamten Bruttoinlandproduktes entsprechen. Frage: Muss man sich also mit diesem Fehlen finanzieller Ressourcen einfach abfinden? C.B.: Im Augenblick bleibt nichts anderes übrig. Möglichkeiten, die Ausgaben zu erhöhen… Wir sind daran, für die nächsten Jahre Kredite auszuhandeln. Ebenfalls versuchen wir, ein sogenanntes Stand-by-Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds auszuhandeln, um Unausgewogenheiten bei den Rückzahlungen auszugleichen. Dieses Stand-by-Abkommen soll aber nicht an die traditionellen Bedingungen der 80er oder 90er Jahre geknüpft sein. Es gibt auch Verhandlungen auf regionaler Ebene, wie sie bei dem Treffen mit Barack Obama in Trinidad und Tobago geführt wurden: Die Stärkung der Zentralamerikanischen Integrationsbank (BCIE), die Möglichkeit von Budgethilfen seitens des Währungsfonds etc. Aber wie auf dem letzten G-20- Gipfel festzustellen war, scheint sich die Welt momentan stärker um Osteuropa zu kümmern als um Lateinamerika. Frage: Es heisst immer, die Krise sei auch eine Chance für Veränderung. Wo sehen Sie in der gegenwärtigen Krise einen Ansatzpunkt für grundlegende Veränderungen? C.B.: Die grosse Chance die sich mit dieser Krise eröffnet, ist, dass man mit Politiken experimentieren kann, die nicht so ideologisiert sind wie früher. Die Krise zeigt deutlich die Notwendigkeit von einem Finanzpakt auf und ruft nach neuen Formen von Verteilungspolitiken. In Guatemala gelang es, im Jahr 2000 einen Finanzpakt zu unterschreiben, aber es gelang nicht, eine wirkliche Reform der direkten Besteuerung oder des privilegierenden Steuersystems durchzubringen. Wir müssen an einer Einkommenssteuer des XXI. Jahrhunderts arbeiten und unser Bankgeheimnis kritisch überprüfen. Und wir müssen substantiell unsere Einnahmen erhöhen. Doch es gibt strukturelle Grenzen wie z.B. die extreme Armut, die es uns nicht erlaubt, die Anzahl der Steuerzahlenden zu erhöhen; oder eine Verfassung, welche die Macht des Staates im Thema Besteuerung extrem einschränkt; oder schwache politische Parteien, die zu 100% von privater Finanzierung abhängig sind und ein wirtschaftlich starker Sektor, der die Möglichkeit hat, gegen sämtliche Reformen das Veto einzulegen. Die Macht der konservativen Elite erlaubt es nicht, den Wohlfahrtsstaat aufzubauen, den wir gerne möchten. Frage: Wird die Opposition die Konjunktur ausnützen, um der Regierung zu schaden? Hat die Regierungspartei die notwendige Unterstützung im Parlament? C.B.: Es hat sich eine Koalition zu bilden begonnen, aber logischerweise muss erklärt und diskutiert werden. Es hat uns viel Zeit gekostet, die verschiedenen Interessen zusammenzubringen, aber ich glaube, wir hätten die notwendige Unterstützung im Kongress, um wichtige Gesetze durchzubringen: Die indirekte Besteuerung, die Staatsanleihen (bonos de deuda), der Bau der FTN und die Private-Public-Partnership. Die stärkste Oppositionspartei (Partido Patriota) bleibt sich treu und steht zu allem in dogmatischer Opposition. Ihr einziger Vorschlag, wie der Krise begegnet werden kann, ist sparen und sich nicht verschulden. Aber wie soll ein Staat, der sowieso schon finanziell schwach ist, den Gürtel noch enger schnallen? Die ganze Welt verändert sich, bloss in Guatemala ist der marktwirtschaftliche Fundamentalismus immer noch weit verbreitet und stark. Nach oben |
Frage: In den USA hat man aus der Krise gelernt, dass die Wall Street besser kontrolliert werden muss. Was hat Guatemala gelernt? C.B.: Wir müssen einen Staat aufbauen, der einen minimalen Service und Sicherheit bieten kann, was das andere grosse soziale Problem bei uns ist. Mit dem Finanzpakt, den wir haben, kann man keine wettbewerbsfähige Gesellschaft aufbauen, keine qualifizierten Arbeitskräfte ausbilden, die uns in der internationalen Wirtschaft konkurrenzfähig machen. Nun verlangen die sozialen Sektoren vom Staat, dass er ihnen helfe, aber der Staat kann nicht, er ist völlig auseinander genommen worden. Frage: Glauben Sie, dass Ihr Diskurs in der Regierung mehrheitsfähig ist? C.B.: Es gibt Kräfte, die in diese Richtung weisen, aber auch andere, die in die Gegenrichtung tendieren. Der marktwirtschaftliche Fundamentalismus ist sehr mächtig. Innerhalb der Regierung spiegeln sich verschiedene Tendenzen. Der Präsident hat unermüdlich die Erhöhung der Sozialausgaben gepredigt, die Programme der sozialen Kohäsion sind prioritäre Strategien in der Arbeit der Regierung. Aber man muss sie finanzieren können. Kurzfristig können wir das einzig durch Schulden. Aber um ihnen längerfristig Erfolg zu garantieren, braucht es eine Steuerreform. Frage: Dem Gesundheitsministerium wird das Budget um 375 Mio. Quetzales gekürzt. Ist das nicht ein Widerspruch? C.B.: Das Geld wurde in ein Programm des Rats für soziale Kohäsion umgeleitet, das darin besteht, Bildung und Gesundheit zu fördern: Den Frauen wird Geld ausbezahlt, im Gegenzug bringen sie ihre Kinder zur Schule oder ins Gesundheitszentrum. Frage: Aber wenn dem Gesundheitszentrum das Budget für Medikamente und Personal fehlt… C.B.: Das ist die grosse Herausforderung. Wenn ich die Nachfrage fördere, muss ich das Angebot erhöhen. Deshalb hat die Soziale Kohäsion auch ein Budget, um Schulen oder Gesundheitszentren zu renovieren und modernisieren. Was immer wieder kritisiert wird, ist, dass die Dienstleistungen des Projekts gratis sind und die finanziellen Unterstützungen an Bedingungen geknüpft. Die Nachfrage ist riesig, und viele befürchten, dass dadurch die Qualität des Programms abnimmt. Möglicherweise hat die Regierung zu spät auf die grosse Nachfrage reagiert, aber das Programm bewährt sich. Ausserdem beendet es die Praxis, Staatsaufgaben an Private oder an Nichtregierungsorganisationen zu delegieren. Das Problem war, dass es früher nur 5 Kinder in einem Schulzimmer hatte, nun sind es 60 - das kann doch kein Problem sein! Frage: Ein einzelnes Programm - Soziale Kohäsion - ausserhalb der Ministerien zu pushen, bedeutet dies wirklich, den Staat zu stärken? C.B.: Diese Art von Programm wurde in ganz Lateinamerika eingeführt, und bei ihren Evaluationen zeigt sich, dass sie zur Reduktion von allgemeiner und extremer Gewalt beitragen. Es wird eine Debatte darüber geführt, wie lange solche Programme dauern sollen und wie man sie wieder absetzen kann, ohne die begünstigten Familien in die Armut zurückzukatapultieren. Das Problem, mit dem wir uns in Guatemala beschäftigen müssen, ist die Frage, wie wir nach vier Regierungen, die nichts anderes als die Staatskassen geleert haben, wieder zur Institutionalität zurückfinden. Das geht nicht von heute auf morgen. Die Ministerien sind sehr schwach in der Ausübung ihrer Funktionen. Die Regierung von Alvaro Colom wird am Ende ihrer Amtszeit eine Konterrevolution gegen die Politiken der freien Marktwirtschaft der letzten 15 Jahre auf den Weg gebracht haben. Frage: Weshalb haben sich die Auswirkungen der Krise so schnell in den zurückgehenden Steuereinnahmen widerspiegelt? C.B.: Weil das Steuersystem stark von den indirekten Steuern abhängig ist. Es gibt einen Rückgang der Importe, und damit gehen die darauf erhobene Mehrwertsteuer und die Zölle verloren. Man muss aber auch erwähnen, dass in Zeiten wie diesen die Unternehmen listig darin sind, ihre Steuern zu umgehen. Wenn sie eine Verringerung ihrer Einkünfte verbuchen müssen, versuchen sie, dies wett zu machen, indem sie weniger Steuern bezahlen - und geben somit ihren Verlust an den Staat weiter. Frage: In einem Land mit einem so grossen informellen Markt wie Guatemala, wie stark beeinflussen die internationalen Finanzbewegungen eigentlich das alltägliche Leben der Mehrheit? C.B.: Die Auswirkungen der Krise sind in Guatemala nicht vom selben Ausmass wie in Ländern mit einer grossen formalen Arbeitswelt. Hier sind es die Menschen gewohnt, kreative Überlebensstrategien zu erfinden. Diese Ökonomie dreht sich um die Verfügbarkeit von Einkünften, und diese Einkünfte sind die Geldrücküberweisungen, die öffentlichen Ausgaben, der Tourismus, und all diese Bereiche sind von der Finanzkrise betroffen. Deshalb braucht es dann die sozialen Einrichtungen, vor allem auch in den Städten: Suppenküchen oder das Verteilen von Essen oder Hilfsprogramme für alte Menschen. Frage: Wer wie Sie aus den sozialen Organisationen kommt - was kann der lernen, wenn er plötzlich Zugang zur Macht bekommt? C.B.: Ich möchte ein Beispiel nennen: Wir haben eine Wahl gewonnen, wir sind nicht am 1. Januar 1959 in die Hauptstadt einmarschiert und haben die Revolution gemacht. Wir haben eine Wahl gewonnen innerhalb eines Schemas von Allianzen, was uns einige Reformen erlaubt. Diesen Prozess zu vertiefen, braucht eine andere Art von Allianzen, ein anderes Kräfteverhältnis - hoffentlich gelingt es uns, ein solches aufzubauen! Von einer tiefgreifenden Reform in der Landwirtschaft oder im Steuersystem zu sprechen, dazu braucht es andere Allianzen. An der aktuellen Regierung beteiligt zu sein, erlaubt aber immerhin, die Sozialpolitik neu zu gestalten. Frage: Hat sich ihre Einstellung der Privatwirtschaft gegenüber verändert? C.B.: Ich gebe zu, dass sie sehr einflussreich ist. Die organisierte Privatwirtschaft weiss, wie man Politik macht. Die Regierungen wechseln, aber der Privatsektor bleibt derselbe, und ihre Kader haben die barbarische Fähigkeit, Prozesse aufzuhalten und ihre Interessen durchzusetzen. Wir hingegen haben es nicht geschafft, nachhaltig unsere eigenen Kader auszubilden, die es mit der Privatwirtschaft aufnehmen könnten. Bis heute ist keiner Regierung die Wiederwahl gelungen. Darum ist es so wichtig, dass die aktuelle Regierung ihre Zeit durchhält und Leute ausbildet, welche die dringend notwendigen Politiken konkretisieren können. Die Privatwirtschaft braucht keine starken Parteien - wir hingegen schon. Die VertreterInnen der Privatwirtschaft haben die verschiedenen Regierungen kommen und gehen sehen, sie wissen, wie der politische Zyklus verläuft, der zudem sehr kurz ist: im ersten Regierungsjahr wird gelernt, im zweiten gearbeitet und im dritten und vierten beginnt bereits wieder der Wahlkampf. Der private Sektor weiss sehr gut mit diesem Zyklus umzugehen: im ersten Jahr wird verhandelt, im zweiten wird weiterverhandelt und spätestens ab dem dritten ist klar, dass keine Partei wichtige Reformen durchziehen wird. |
Original-PDF 435 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 --- Nächstes Fijáte