Maya-Rechtsprechung: Die Herausforderung, eigenes Wiederzubeleben
Fijáte 196 vom 20. Okt. 1999, Artikel 1, Seite 1
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Maya-Rechtsprechung: Die Herausforderung, eigenes Wiederzubeleben
Sowohl der Bericht des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros (REMHI) sowie der infolge der Friedensabkommen eingesetzten Wahrheitskommission (CEH) sind sich einig, dass eine der Auswirkungen der Gewalt und Militarisierung während des bewaffneten Konfliktes die Zerstörung der traditionellen Werte war und damit das Nichtrespektieren traditioneller Formen zur Konfliktlösung. Eine der in den Friedensverhandlungen vorgesehenen Reformen ist die Pflicht der Regierung, dafür zu sorgen, dass die gesetzgebenden Organismen die Gewohnheitsnormen der indigenen Gemeinden anerkennen. Die Reformen, die eben dieses Gewohnheitsrecht in der Verfassung verankert hätten, sind bei der Volksbefragung im Mai in allen mehrheitlich indigenen Departementen angenommen worden, aber das Gewicht der Stimmen der Hauptstadt war grösser. Die Befürwortenden suchen nun nach der Möglichkeit, während der nächsten Regierungsperiode Gesetzesreformen durchzubringen, welche sich auf das Abkommen 169 der ILO stützen, das Guatemala 1993 unterzeichnete. Der folgende Artikel ist am 30 Juli im Inforpress Centroamericana erschienen. Die Defensoría Maya, mit 800 Delegierten in vierzehn Regionen, arbeitet schon seit geraumer Zeit in den indigenen Gemeinden und ist zu einer wichtigen Hilfe für die Beilegung von Konflikten in diesen Gemeinden geworden. Am 14. Juni publizierte die Defensoría Maya eine Studie über 219 Fälle, in denen Konflikte mittels Maya- Rechtsprechung gelöst worden waren. Ziel dieser Studie war es, aufzuzeigen, dass ein System mit eigener Struktur existiert, welches durch die Gemeinden selber ins Leben gerufen wurde. Dessen Funktionieren beruht auf einer Serie von Werten, Prinzipien, Normen und Vorgehensweisen und wird von den indigenen Obrigkeiten laufend überprüft und weiterentwickelt. Die Defensoría Maya sieht sich selbst als "Instrument für den Übergang von der Zerstörung zum Wiederaufbau" und versucht, den traditionellen Mechanismen zur Konfliktlösung wieder ihren Stellenwert zu geben. Der bewaffnete Konflikt und die Militarisierung der Gemeinden hatten zur Folge, dass die Maya- Obrigkeiten vertrieben wurden, die normalerweise über die Harmonie und das Gleichgewicht in den Beziehungen zwischen den BewohnerInnen wachten. Der REMHI- Bericht dokumentiert diesen Vorgang: Mit dem Verlust ihrer alten Menschen und ihrer traditionellen Autoritäten verloren viele Gemeinden auch die Erinnerung an ihre Vorfahren und die Erfahrungen bei der Lösung gemeinschaftlicher Probleme nach dem traditionellen System der Mayas, in dem die Wiedergutmachung eines Schadens Vorrang vor Bestrafung hatte. Dieses System sah eine positive Handlung der/des Normübertretenden gegenüber der betroffenen Person oder der Natur vor, die im Rahmen der Gemeinschaft vollzogen wurde. Die Richtung, in welche die Gewalt sich entwickelte, beruht auf einer tiefen Verachtung des Leben voraus. Viele der Befragten sehen in dieser Gewalt den Anfang des Verlustes gegenseitigen Respekts, als Wert in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Generationen innerhalb der Gemeinde. Es können sicher auch andere Faktoren mitspielen....aber die Militarisierung hat eine Infragestellung der traditionellen Werte bedeutet, (REMHI, 1. Band, Seiten 126/7). Auch der Bericht der Wahrheitskommission (CEH) betont diesen Einfluss der staatlichen Gewalt: Die CEH hat festgestellt, dass das Nichtrespektieren und die Zerstörung der traditionellen Formen von Konfliktlösung sowie der Autoritäten, die ihnen Beachtung verliehen, eine der konstantesten Charakteristiken von 1980 bis zum Ende des bewaffneten Konflikts war, (Schlüsse und Empfehlungen der CEH, 1999). Für einige AnalytikerInnen haben diese Untergrabung der traditionellen Autorität, begleitet von Gewalt und Militarisierung der Gemeinden, der Straflosigkeit und der Korruption im Rechtssprechungssystem dazu beigetragen, dass in den letzten sechs Jahren aussergerichtliche Hinrichtungen in ländlichen Gebieten zugenommen haben. MINUGUA, die UNO- Mission zur Beobachtung der Umsetzung der Friedensverträge hat von 1996- 98 insgesamt 182 aussergerichtliche Hinrichtungen festgehalten. In ihrem Bericht vom März 1999 nennt sie als möglichen Grund das durch den internen, bewaffneten Konflikt entstandene Vakuum, speziell in den Zonen des Hochlandes. Das militärische Modell, dem die Bevölkerung während Jahrzehnten ausgesetzt war, hat sich auf Kosten der sowieso schwachen rechtsstaatlichen Institutionen und der traditionellen Methoden der Konfliktlösung gefestigt. Die fehlende Strafverfolgung lässt absolute Straflosigkeit entstehen. Das Fehlen staatlichen Handelns wird von der Bevölkerung als stillschweigendes Einverständnis mit der sog. "Gerechtigkeit aus eigener Hand" interpretiert, was wiederum die Akzeptanz solcher Praktiken bei der Bevölkerung fördert. Dieses Machtvakuum auf Gemeindeebene trägt zu den aussergerichtlichen Hinrichtungen bei. Nach oben |
Die BefürworterInnen der Maya-Justiz sind der Meinung, dass die Anerkennung der Maya-Rechtsprechung Möglichkeiten zu gesellschaftlichen Veränderungen öffnen kann. Das Gewohnheitsrecht akzeptieren würde bedeuten, eine Demokratie aufzubauen, die den existierenden kulturellen Unterschieden im Land Rechnung trägt, so die Soziologen Edgar Esquit und Iván García in ihrer Untersuchung "Das Gewohnheitsrecht, die Justizreform und die Umsetzung der Friedensverträge" (FLACSO 1998). Der Sieg des "NEIN" in der Consulta Popular (Abstimmung über die Verankerung der Verfassungsreformen) schadete den Bemühungen um die Anerkennung des Gewohnheitsrechts in den Verfassungsreformen (Inforpress 1320). Mit der Reform des Artikels 203 sollte dem bestehenden Text ein Abschnitt beigefügt werden, der die Anerkennung des indigenen Gewohnheitsrechts und die Gültigkeit ihrer Entscheide festhält: Der Staat anerkennt das indigene Gewohnheitsrecht, verstanden als die Normen, Prinzipien, Werte, Vorgehensweisen, Traditionen und Bräuche der indigenen Bevölkerung zur Regelung ihres Zusammenlebens; ebenso die Gültigkeit ihrer Entscheidungen unter der Bedingung, dass jedeR sich ihr freiwillig unterstellt, dass die fundamentalen, durch das nationale Justizsystem definierten Rechte, die von Guatemala mitunterzeichneten, internationalen Menschenrechtsabkommen nicht verletzt werden und die Interessen Dritter nicht beeinträchtigt werden. Die politischen Verhandlungen, um die Änderung am Art. 203 ins Reformenpaket aufzunehmen, waren sehr schwierig, weil einige Kongressabgeordnete argumentierten, diese Reform würde die "Ausschliessliche Rechtssprechung", über die heute der Oberste Gerichtshof verfügt, abschaffen. Die Kommission zur Stärkung der Rechtsprechung, gegründet, um die Friedensverträge juristisch umzusetzen, versuchte, die Modernisierung des Staatsapparates mit der notwendigen Anerkennung des Gewohnheitsrechts in Übereinstimmung zu bringen. Dies, um einerseits zu verhindern, dass den indigenen Völkern Normen und staatliche Autoritäten aufgedrängt werden. Zum andern soll verhindert werden, dass parallele Rechtssysteme aufgebaut werden, die unabhängig voneinander funktionieren. Die Volksbefragung hatte die Schaffung einer verfassungsmässigen Norm zum Ziel, die sich in einem Gesetz konkretisiert, das die Beziehung zwischen beiden Systemen auf flexible, übereinstimmende Art regelt und das innerhalb kurzer Zeit erarbeitet wird. (Guatemala, los contrastes del desarrollo humano 1998, S. 142.) Für Lic. Arnoldo Ortiz Moscoso, Mitglied der Kommission zur Stärkung der Rechtsprechung und seitens des Staates Unterzeichner des Abkommens 169 der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) bedeutet die Ablehnung der Reformen in der Volksabstimmung ein Innehalten in einer Vorwärtsbewegung, was aber auch positiv sein kann. Die politische Verhandlung und die Volksabstimmung haben eine breite Diskussion über das Maya-Gewohnheitsrecht und ihre traditionelle Rechtsprechung ausgelöst, meint Ortiz Moscoso. Das Indigena-Recht ist jetzt ein Thema nicht nur in der Agenda der Mayas, sondern aller nationalen und internationalen Organisationen, die sich seiner Wichtigkeit bewusst sind. Die Mayaorganisationen haben sich damit abgefunden, dass das Nichtzustandekommen der Verfassungsreform kein Hindernis ist. Es gibt einige Aktivitäten von offizieller Seite her, die auf eine Anerkennung des Maya-Rechts hinzeigen", meint er weiter. Laut Leonardo Cabrera von der Koordination der Mayaorganisationen Guatemalas (COPMAGUA) ist es eine mögliche Strategie, die bereits existierenden Gesetze zur Anerkennung des Maya-Rechts besser zu nutzen. Im Art. 66 der guatemaltekischen Verfassung zum "Schutz von ethnischen Gruppen", anerkennt, respektiert und fördert die Verfassung Lebensformen, traditionelle Bräuche, Organisationsformen...von Männern und Frauen... Im selbenAbschnitt der Verfassung wird die Schaffung eines spezifischen Gesetzes vorgeschlagen, um die indigenen Gemeinden zu organisieren. In den fünfzehn Jahren, seit denen diese Verfassung besteht, ist dieses Gesetz nie verkündet worden. Ortiz Moscoso und Cabrera sind auch der Ansicht, dass das Abkommen 169 der ILO ein wichtiges Werkzeug zur Förderung der Maya-Rechtsprechung ist. Das Abkommen anerkennt die Gültigkeit der spezifischen sozialen Organisationen und Formen der Konfliktlösung der indigenen Völker. Eine andere Möglichkeit ist, nach Mechanismen zu suchen um die Entscheide der Maya- Obrigkeiten durch die Friedensrichter anerkennen zu lassen, raten sie Obwohl KritikerInnen dieser Initiativen damit argumentieren, es könnten nicht zwei parallel operierende Rechtssysteme existieren, behaupten die BefürworterInnen, dass es keinen Widerspruch zwischen der Maya-Justiz und dem offiziellen Rechtswesen gibt. Ortiz meint: Die Maya- Justiz kann keine Entscheide fällen, die gegen die nationalen Gesetze oder gegen Menschenrechtsabkommen verstossen, welche vom guatemaltekischen Staat anerkannt wurden. Die Tatsache, dass das Gewohnheitsrecht eine Möglichkeit ist, erleichtert das Harmonisieren beider Systeme. Die Maya-Autoritäten schalten sich nur ein, wenn dies beide Konfliktparteien wünschen. Nach der Ablehnung der Verfassungsreformen im Mai und dem Beginn der Wahlkampagne ist es unwahrscheinlich, dass zum Thema noch dieses Jahr etwas geschieht. Für die rivalisierenden Parteien stellt sich das Problem, wie sie möglichst viele Stimmen gewinnen können, wenn eine Hälfte der WählerInnen für einen plurikulturellen, multiethnischen und vielsprachigen Staat sind und die andere Hälfte vor eben dieser immer noch Angst hat. |
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