Das Wiedererwachen der Volksbewegungen
Fijáte 220 vom 11. Okt. 2000, Artikel 1, Seite 1
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Das Wiedererwachen der Volksbewegungen
In seinem Interview, das wir im letzten ¡fijáte! an dieser Stelle veröffentlichten, sagte Raúl Molina, dass "die Oppositionsparteien eigene Probleme haben und dass es keine politische Kraft gibt, die der Regierungspartei FRG (Republikanische Front Guatemalas) die Stirn bietet". Eine pessimistische Einschätzung - und trotzdem, es gibt eine ganze Reihe Organisationen oder Bewegungen, die ihren Protest gegen die Regierung auf verschiedenste Weise ausdrücken. Der folgende Artikel basiert auf einer Analyse, die im Reporte Diario vom 28. September des IPES (Institut für politische, ökonomische und soziale Studien) erschien und versucht, die Entwicklung der Volksbewegung seit der Friedensunterzeichnung aufzuzeigen. Bald vier Jahre sind vergangen, seit der Unterzeichnung der Friedensverträge am 26. Dezember 1996. Ein Datum, das als historisch in die Geschichte Guatemalas eingegangen ist und eine neue politische Ära einleitete. Wir wissen alle, dass Daten wichtig sind für die offizielle Geschichtsschreibung, dass aber die Realität oftmals viel komplexer ist, geprägt von einer Vielzahl von Menschen, Gruppen und sozialen Schichten, die zusammen eine Gesellschaft bilden, darin jedoch ihre persönlichen Interessen und spezifischen Ziele verfolgen und mit unterschiedlichen Formen durchzusetzen versuchen. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass der Prozess, der als neue politische Ära bezeichnet wird, bereits mit den ersten Verhandlungen zwischen den in den internen Konflikt verwickelten Parteien begonnen hat. Nach dem 26. Dezember 1996 begann für die sozialen Bewegungen eine neue Etappe des Kampfes und entsprechend veränderten sich ihre Ausdrucksformen. Es ging nicht mehr darum, das Ende des Krieges zu fordern und auch nicht mehr darum, Vorschläge für die Ausarbeitung der Friedensabkommen zu erarbeiten. Die sozialen Bewegungen konzentrierten sich wieder auf die spezifischen Forderungen ihrer jeweiligen Basis, als gemeinsame Forderung hatten sie einzig noch die Einhaltung der Friedensabkommen. Etwa zwei Jahre nach Unterzeichnung der Friedensabkommen begann sich die Situation zu ändern. Erste Enttäuschungen der sozialen Bewegungen über die Regierungspolitik kamen zum Ausdruck und die Umsetzung der Abkommen kam ins Stocken: Die Einführung einer neoliberalen Politik gegen die Staatsangestellten und ihre Gewerkschaften, sowie eine ähnliche Entwicklung in der Privatwirtschaft, wobei Zehntausende von Angestellten zur 'freiwilligen Kündigung' gezwungen wurden, gingen einher mit der Blindheit des Arbeitsministers gegenüber allen Verletzungen des Arbeitsrechts. Die Bestrebungen der BäuerInnen-Bewegung, ihre Kampfstrategie zu ändern und in den durch die Friedensabkommen zur Lösung der Landfrage geschaffenen Instanzen teilzunehmen, erwiesen sich als eine Sackgasse. Die zivile und legale Wiedereingliederung der ehemaligen KämpferInnen der URNG verlief extrem langsam und ist bis heute noch nicht beendet. Dazu kam, dass nur externe finanzielle Unterstützung bekam, wer nicht irgendwie mit der URNG in Verbindung stand und ausschliesslich Projekte unterstützt wurden, die nicht eine linke Ideologie verfolgten bzw. möglichst unpolitisch waren. Gleichzeitig wurde ein Klima geschaffen, in dem sich rechte und ultrarechte Kräfte entwickeln und stärken konnten, wie z. B. die FRG, die Liga pro Patria, und die fundamentalistischen evangelischen Sekten. Zivile rechte Gruppierungen kontrollieren seit Beginn den Verlauf der Friedensverhandlungen, was sich 1996 in der Regierungsübernahme durch die Partei des Nationalen Fortschritts (PAN) ausdrückte. Der Regierungsstil der PAN, die Privatisierungen und die darauffolgenden Erhöhungen der Preise von Dienstleistungen und Grundnahrungsmitteln, das Anwachsen der internen und externen Schuld sowie der populistische Diskurs ihres Präsidentschaftskandidaten, der die PAN und alle andern politischen GegnerInnen kritisierte, verhalfen der FRG 1999 zum Wahlsieg. Mit der Übernahme der Regierung durch die FRG, die auch im Kongress die Mehrheit hat und eine grosse Zahl der Gemeinden regiert, wurde die PAN und ihre Basis im wahrsten Sinne des Wortes 'nach Hause geschickt' - viele ihrer Mitglieder arbeiten heute im informellen Sektor, viele von ihnen wandten sich der Ultrarechten zu. Gleichzeitig gewannen aber auch die sozialen Bewegungen an Stärke und Unterstützung aus dieser Gruppe. Das politische Szenario hat sich verkompliziert durch den wachsenden Druck aus der guatemaltekischen Gesellschaft, die den wirtschaftlichen Stürmen nicht mehr gewachsen ist, durch die immer mehr Leute aus der Mittelklasse in die Armut gedrängt werden. Die Analyse wäre nicht vollständig ohne einen Blick auf die Position der Allianz Neue Nation (ANN) zu werfen. Die beiden Parteien URNG und DIA, die in erster Linie die ANN ausmachen, haben es nicht geschafft, als einheitliche Kraft aufzutreten. Ebensowenig gelingt es ihnen, taktische politische Allianzen mit anderen Kräften einzugehen. Sie sind hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Strukturen aufzubauen und ihre Zukunft als politische Parteien zu definieren. Die URNG hat eine wichtige Rolle in der Begleitkommission der Friedensabkommen inne. Auch die Unterzeichnung des Finanzabkommens wird von der URNG als eine ihrer Initiativen verbucht. Durch die Abspaltung der Unionistas von der PAN ist die ANN zur zweitstärksten Kongresspartei geworden, was ihre Verpflichtungen der guatemaltekischen Gesellschaft gegenüber erhöht. Doch diese Verpflichtungen und die vermeintliche Macht, die die ANN über gewisse Sektoren der guatemaltekischen Gesellschaft hat, muss genauer angeschaut werden: Nach oben |
Im Moment konzentrieren sich die Aktivitäten der ANN mehrheitlich auf ihre Vertretung in der Legislative, wo die Machtverteilung für sie ungünstig liegt. Um so wichtiger ist, dass die Aktivitäten im Kongress begleitet werden von Protesten auf der Strasse, die Ausdruck einer neuen Form von pluralistischer, demokratischer Organisation sind. Die ANN im Allgemeinen und die URNG im Speziellen haben Erfahrung darin, Bewegungen zu leiten, die soziale Gerechtigkeit fordern. Heute kann man klar sagen, dass die sozialen Bewegungen einen Aufwärtstrend erleben, langsam zwar und mit unterschiedlichen Ausdrucksformen, aber nicht geleitet oder manipuliert von einer bestimmten politischen Kraft: Ein Beispiel dafür waren die massiven Proteste gegen die Fahrpreiserhöhung des öffentlichen Transports in der Hauptstadt im Mai dieses Jahres. Breite Sektoren haben diese Demonstrationen unterstützt. Oder die Proteste der StrassenhändlerInnen, die Ende Mai erreichten, dass ein Gesetzesvorschlag, der ein sehr hartes Vorgehen gegen den informellen Sektor vorsah, nicht verabschiedet wurde. (Leider legte Präsident Portillo sein Veto gegen das ausgehandelte Gesetz ein und es erlitt doch noch eine Verschärfung.) Oder die jüngsten Demonstrationen gegen die Fälschung des Alkoholgesetzes, die jeweils am Dienstag vor dem Kongress stattfinden. Oder der Hungerstreik der ElendsviertelbewohnerInnen (FREPOGUA), der seit dem 22. September im Gange ist und breit unterstützt wird. (siehe Artikel in diesem ¡fijáte!) Oder der Barrikadenbau im Stadtteil El Limón, wo die städtischen Wasserwerke EMPAGUA seit drei Monaten das Wasser abgestellt haben. Oder der Hungerstreik von LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern zur Unterstützung eines Lehrers, der in Jutiapa unrechtmässig entlassen wurde. Oder das Verkehrschaos, das auf der Pazifikstrasse entstand, als eine Gruppe von 300 Familien die Strasse blockierte, alles sog. 'Mitch-Opfer', die immer noch keinen definitiven neuen Wohnort zugeteilt bekommen haben und erneut von einer Räumung bedroht sind. Oder die BäuerInnen-Bewegung, die vermehrt zu sog. medidas de hecho greift und für den 12. Oktober zu einer landesweiten Demonstration aufruft. Oder, oder, oder... Sie sind unzählig, die kleineren und grösseren Unmutsbekundungen der Bevölkerung, nicht nur in der Hauptstadt, sondern vermehrt auch in den Departementen und Provinzen. Tatsache ist aber, dass viele dieser Aktionen relativ kurzlebig sind und keine längerfristigen Auswirkungen haben. Die Demonstrationen im Zusammenhang mit der Transport-Preiserhöhung, z.B. schafften es zwar beinahe, eine Staatskrise auszulösen, doch wurde trotz der Einsetzung einer speziellen Kommission bisher keine Lösung gefunden. Ein erneuter Druck von der Strasse zu diesem Thema blieb bisher aus. Tatsache ist auch, dass die URNG bzw. die ANN erst jetzt langsam beginnen, zu Aktionen aus den sozialen Bewegungen Stellung zu beziehen, diese unterstützen und im Kongress entsprechend Position beziehen. Wünschenswert wäre sicher, wenn die beiden Aktionsebenen, die Strasse und die Legislative, besser koordiniert würden. Die aufgezählten Protestformen sind Beispiele für das Erwachen der guatemaltekischen Bevölkerung. So wie sich die politische Situation entwickelt, kann damit gerechnet werden, dass die Proteste der Bevölkerung gegen ihre Regierung weiterhin zunehmen. Was sich aber jetzt schon abzeichnet, ist, dass die Regierung nicht fähig ist, mit solchen Demonstrationen umzugehen. Dialogversuche scheitern meistens, vielmehr reagieren gewissen Gruppen mit Methoden der achtziger Jahre: Überfälle auf Menschenrechtsorganisationen, Todesdrohungen und Einschüchterungsversuche und - als letztes Mittel die aussergerichtliche Hinrichtung nehmen in letzter Zeit massiv zu. |
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