emPower - interkultureller Jugendaustausch
Fijáte 397 vom 07. November 2007, Artikel 1, Seite 1
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emPower - interkultureller Jugendaustausch
Der Guatemalteke Augustín Ramírez Pérez ist einer von 16 Jugendlichen unterschiedlicher geographischer Herkunft, die an der neunmonatigen interkulturellen Ausbildung emPower im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen (Schweiz) teilgenommen haben. Als Fachleute der interkulturellen Kommunikation werden sie in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ihre Erfahrungen und ihr Wissen in ihren Heimatländern weitergeben. Normalerweise sind es wir WestlerInnen, die nach Guatemala reisen, um danach hierzulande unsere Eindrücke und Erfahrungen kundzutun. Die ¡Fijáte!-Redaktion wollte einmal umgekehrt von einem Guatemalteken wissen, wie es für ihn war, in die Schweiz zu kommen und hier eine Zeit lang zu leben. Wenn dieser ¡Fijáte! erscheint, ist Augustín bereits zurück in Guatemala. In einer der nächsten Ausgaben werden wir uns mit ihm darüber unterhalten, wie seine Heimkehr war und wie er - nach neun Monaten ausser Landes - Guatemala wieder-sieht. Frage: Kannst du dich kurz vorstellen? Augustín Pérez Ramírez: Mein Name ist Augustín Pérez Ramírez, ich wurde 1983 in Mexiko geboren. Meine Eltern flüchteten während des internen bewaffneten Konflikts in Guatemala dorthin, so wie viele andere Familien, die in der Grenzregion zu Mexiko lebten. 1987 kehrte meine Familie zusammen mit anderen in einem organisierten "Retorno" nach Guatemala zurück, wo wir seither leben. Ich bin 23 Jahre alt und Lehrer in einer interkulturellen zweisprachigen Primarschule. Wir sind sieben Geschwister. Meine Mutter starb als ich zwölf Jahre alt war, sie gebar sechs Söhne und eine Tochter. Drei Jahre später heiratete mein Vater wieder und hatte mit seiner neuen Frau einen Sohn und zwei Zwillingstöchter, die heute sieben Jahre alt sind und gerade in die Schule gekommen sind. Vor vier Jahren schloss ich meine Ausbildung als Lehrer ab, unterdessen habe ich drei Jahre Berufserfahrung in Vor- und Grundschule. Seit drei Jahren studiere ich nebenberuflich an der Universität, es fehlen mir noch zwei Jahre bis zum Abschluss als Pädagoge. Ich hoffe, dass ich nach meiner Rückkehr nach Guatemala das Studium wieder aufnehmen kann. Frage: Wie bist du in die Schweiz gekommen? Augustín: Wir sind am 7. Februar dieses Jahres in die Schweiz gekommen. Alle, die an dem Programm teilnehmen, wurden von ihren jeweiligen Organisationen ausgewählt und geschickt. Ich vertrete PRODESSA (Proyecto de Desarrollo Santiago, die Red.), eine guatemaltekische Organisation, die mit und in ländlichen Gemeinden arbeitet, vor allem im Bildungsbereich. Wir ermöglichen Stipendien für Kinder aus ärmeren Verhältnissen, deren Eltern nicht in der Lage sind, das Schulgeld zu bezahlen. Ein Schwerpunkt von PRODESSA ist die interkulturelle Bildung. Dies ist auch der Grund, weshalb die Organisation bzw. ich, eingeladen wurde, am Projekt emPower teilzunehmen. Insgesamt sind wir in dem Projekt 16 Leute aus sieben Ländern: Aus Guatemala, Honduras, El Salvador, Laos, Serbien, Mazedonien und aus der Schweiz. Frage: Was für Bilder und Vorstellungen hattest du vor deiner Ankunft von der Schweiz? Wie hast du dich auf die Reise vorbereitet und mit welchen Gefühlen hast du sie angetreten? Augustín: Als ich vor einem Jahr erfuhr, dass ich in die Schweiz reisen würde, hatte ich keine Ahnung von dem Land. Ich hatte keine konkrete Vorstellung davon, wie es hier sein würde, obwohl ich es in Gedanken mit Frankreich verglich, wo ich im Jahr 2000 während zwanzig Tagen einen SchülerInnenaustausch mitmachte. Entsprechend stellte ich mir die Schweiz ähnlich vor wie Frankreich. Ich wusste nicht, wie ich mich auf die Schweiz und die SchweizerInnen vorbereiten sollte. Wir hatten eine sehr allgemeine Einführung von vier StudentInnen, die letztes Jahr einen Aufenthalt in der Schweiz machten. Ich wusste aber z.B. nicht, dass es in der Schweiz vier Landessprachen gibt: Französisch, Italienisch, Romanisch und Schweizerdeutsch. Eigentlich sind es ja fünf, denn Deutsch ist neben dem Schweizerdeutsch auch eine Art Landessprache, oder? Auf solche Dinge war ich überhaupt nicht vorbereitet. Ich konnte ein paar Wörter Französisch, die ich eigentlich schon längst vergessen hatte, die mir aber wieder ins Gedächtnis kamen, als ich in der Schweiz ankam. Auch mein Englisch war sehr bescheiden, als ich hier ankam. Ich ging auf dem Land zur Schule, da hatten wir keinen Englischunterricht, ein sechswöchiger Kurs vor meiner Reise, das war alles, was ich an Englisch mitbrachte. Ich hatte nicht die Möglichkeit, mich über Bücher oder Internet über die Schweiz zu informieren. Das Schwierigste war für mich, meine Familie zu verlassen. Ich habe immer in meiner Gemeinde, mit meinen Leuten gearbeitet und war nie für längere Zeit von zu Hause weg. Mein Vater weinte, als ich ging, er hatte ja keine Vorstellung davon, wo ich hinging, wo die Schweiz liegt, ob ich wiederkommen würde oder nicht. Auch ich war vor der Reise sehr nervös wegen all dem, was da auf mich zukommen würde. Als erstes machte ich mir Sorgen wegen des Essens. Ich hatte keine Ahnung, was die Menschen in der Schweiz essen, ich kannte nur die Speisen bei uns zu Hause. Dann meine Arbeit. Ich wurde für ein Jahr von der Arbeit suspendiert, aber ich bin eigentlich sicher, dass ich nach meiner Heimkehr meinen Job an jemand anderen verloren habe. So wie die Situation in Guatemala ist, ist es sehr schwierig, Arbeit zu finden. Und dann hatte ich auch Angst vor der Reise, vor dem Umsteigen in verschiedenen Flughäfen, davor, meinen Anschlussflug zu verpassen. Aber zum Glück hatten wir keine Probleme, es lief alles perfekt. Natürlich war ich auch sehr neugierig darauf, die Schweiz kennenzulernen, und ich nutzte jede Gelegenheit, mich mit Leuten, die Englisch sprechen, auszutauschen und etwas über das Land zu erfahren. So bin ich mit ganz vielen Personen in Kontakt gekommen. Frage: Was hast du in der Ausbildung emPower gelernt? Augustín: Auch in dieser Beziehung hatte ich keine Vorstellung, was mich erwartete. Es war für mich eine interessante Erfahrung. Wir lebten alle 16 TeilnehmerInnen des Projekts in einem Haus zusammen, machten alles zusammen wie eine Familie. Das ist die beste Voraussetzung, um interkulturelle Erziehung zu lernen. Der ganze Prozess verlief sehr gut. Wir hatten 12 Module zu verschiedenen Themen, z.B.: Kultur, Rassismus, Diskriminierung, Gender und Kultur, Stereotype, Vorurteile, Konfliktbearbeitung, Projektentwicklung, Methodik, Menschenrechte, Kommunikation. Wir machten auch ein Gruppenpraktikum, einige von uns organisierten Sportaktionen, andere arbeiteten im Büro der Pestalozzi-Stiftung. Nach oben |
Meine Gruppe half mit, einen Austausch mit StudentInnen aus Serbien, Litauen, Russland, Weissrussland und der Schweiz zu organisieren und mit ihnen Workshops zu spezifischen Themen wie z.B. Rassismus durchzuführen. Auf diese Weise lernte ich viele Menschen aus verschiedenen Ländern kennen. Frage: Wenn du nun kurz vor deiner Rückkehr nach Guatemala Rückblick hältst, was war für dich das eindrücklichste Erlebnis in der Schweiz - im positiven wie im negativen Sinn? Augustín: Am meisten beeindruckt hat mich die Art, wie die Schweizer Gesellschaft sozial und politisch organisiert ist. Man kann hier wirklich sagen, dass die gesamte Bevölkerung mitsprache- und entscheidungsberechtigt ist und die politischen VertreterInnen wählen kann, die ihnen entsprechen. Beeindruckt bin ich auch vom schweizerischen Abfallwesen, von der Klassifizierung von Abfall und der je adäquaten Entsorgungsweise. Das politische System gefällt mir, ihr habt nicht bloss einen Präsidenten, der allein alle Entscheidungen trifft, sondern es sind sieben, und sie teilen sich die Verantwortung. Was die menschliche Wärme betrifft, ist die Schweizer Gesellschaft völlig anders als die guatemaltekische. Die Menschen hier sind viel individualistischer, jeder und jede macht die Dinge auf seine oder ihre Weise und für sich allein. Auf der Strasse grüsst man sich nicht, geschweige denn, dass man auf einen Schwatz stehen bliebe. Ich stelle mir vor, die Menschen haben ihre Gründe, so zu sein - doch es scheint mir eine sehr verschlossene Kultur zu sein. Ich habe wenig menschliche Wärme oder menschlichen Kontakt erlebt. Frage: Was hat dir am meisten gefehlt und was würdest du von der Schweiz (ausser Schokolade!) am liebsten mit nach Hause nehmen? Augustín: Am meisten gefehlt hat mir meine Familie. Das mit dem Essen war schlussendlich überhaupt kein Problem, ich habe mich schnell daran gewöhnt. Was ich am liebsten mit nach Guatemala nehme, sind all die Erfahrungen, die ich hier gemacht habe und die ich mit meiner Familie, mit meinen FreundInnen, in meiner Arbeit und in meiner Organisation teilen möchte. Ein Kilo Schnee würde ich auch gerne mitnehmen - für Schokolade hat es in meinem Gepäck keinen Platz mehr. Frage: Hattest du Kontakt zu SchweizerInnen in deinem Alter? Wie war das und was würdest du ihnen für einen Rat mit auf den Weg geben? Augustín: Wie gesagt, ich hatte vor allem Kontakt zu Leuten aus verschiedenen Ländern, der Austausch mit SchweizerInnen hingegen war sehr beschränkt. Ein Problem war die Sprache, viele junge SchweizerInnen sprechen kein Englisch und ich kein Deutsch. Dazu kommt ihre Verschlossenheit bzw. ihre Hemmung, in einer Fremdsprache auf jemanden zuzugehen. Ich spürte auch kein grosses Interesse seitens der SchweizerInnen, etwas von mir und meinem Land zu erfahren. Was ich ihnen gerne mit auf den Weg geben würde ist, dass sie sich nicht so an dem festklammern sollten, was sie sicher haben. Sie sollten sich etwas öffnen für andere Kulturen und etwas Interesse aufbringen für Menschen aus anderen Ländern. Das Zusammenleben und der Austausch sind die Grundlagen für eine interkulturelle Welt, in der Diskriminierung, Stereotypen und Vorurteile abgebaut werden können. Frage: Vor kurzem fanden in der Schweiz Nationalratswahlen statt. Was denkst du von der rassistischen Wahlpropaganda der Schweizerischen Volkspartei (SVP)? Augustín: Dass es im Zusammenhang mit den Wahlen stand, habe ich nicht mitbekommen, aber über die Partei mit den drei weissen Schafen, die das eine schwarze Schaf aus der Schweiz kicken, haben wir natürlich diskutiert. Für mich ist das ein Akt der Diskriminierung, der die entsprechende Stimmung in der Bevölkerung schüren hilft, um das rassistische Ausländergesetz um- und durchzusetzen. Was mit den Menschen passiert, die aus der Schweiz ausgewiesen werden, daran denkt niemand. Frage: Hast du selber diesen Rassismus gespürt? Augustín: Nicht direkt. Indirekt habe ich die rassistische Stimmung aber schon gespürt.. Frage: In wenigen Tagen wirst du nach Guatemala zurück reisen. Wie fühlst du dich vor der Abreise, welche Erwartungen hast du? Augustín: Ich bin aus verschiedenen Gründen etwas verwirrt. Erstens kann ich kaum glauben, dass die neun Monate so schnell verflogen sind. Es fällt mir schwer, meinen neugewonnenen FreundInnen "Goodbye" zu sagen. Wer weiss, ob und wann wir uns wieder sehen. Aber gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass so das Leben ist: die einen kommen, die anderen gehen, nichts bleibt bestehen. Ich freue mich darauf, mit meinen Leuten am Thema der Interkulturalität weiterzuarbeiten. Ich habe während der Zeit hier gemerkt, wie wichtig es ist, Vielfalt anzuerkennen, uns bewusst zu sein, dass wir ein mehrsprachiges, multikulturelles und multiethnisches Land sind und trotzdem alle auf derselben Bühne tanzen. Ich hätte Lust, nach meiner Rückkehr in Guatemala auf einer anderen Stufe zu arbeiten, z.B. in einem Gymnasium oder in einer ganz spezifischen Funktion innerhalb meiner Organisation. Hoffentlich bekomme ich die Chance dazu! Frage: Wie hast du dich persönlich verändert in diesen neun Monaten? Augustín: Die Zeit in der Schweiz hat mich stark verändert, meine persönliche Entwicklung ist in Riesenschritten vorangegangen. Nur schon was die Sprache betrifft: als ich hier ankam, sprach ich bloss wenig Englisch, unterdessen kann ich schon kleine Reden halten. Ich habe einen Einblick bekommen in andere Kulturen, in andere Lebensentwürfe und Religionen. Ich hatte keine Ahnung, dass es BuddhistInnen oder Orthodoxe gibt oder von all den anderen Religionen. Hier habe ich davon erfahren, und wir haben sogar einige ihrer Tempel oder Glaubensstätten besucht. Ich habe gelernt, sie zu respektieren, ohne dass ich dabei meinen eigenen Glauben aufgeben musste. Ich muss dabei immer an die Worte aus der Bibel denken, wo es heisst: "Liebet einander". Aber die Menschheit hat diese Worte verdreht und hat daraus "Bewaffnet euch, die einen gegen die anderen" gemacht. (Wortspiel auf Spanisch: amar = lieben, armar = bewaffnen, die Red.) Frage: Was wäre dir lieber - bleiben oder gehen? Augustín: Naja, was die Sauberkeit, das politische System und Bildungswesen in der Schweiz betrifft, würde ich gerne bleiben und z.B. ein paar Kurse an der Universität belegen, Französisch und Deutsch lernen. Aber die sonstige Lebensweise ist mir zu kompliziert und gefällt mir nicht. Vielen Dank für das Gespräch und gute Heimreise nach Guatemala! |
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