Auf der Suche nach Sicherheit, Teil 2
Fijáte 383 vom 18. April 2007, Artikel 1, Seite 1
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Auf der Suche nach Sicherheit, Teil 2
Wir veröffentlichen im Folgenden den zweiten Teil einer differenzierten Analyse der Sicherheitsfrage in Guatemala, die Carmen Rosa de León-Escribano in der Zeitschrift diálogo von FLACSO im März 2007 machte. León-Escribano ist Leiterin des Instituts für eine Erziehung zur nachhaltigen Entwicklung (IEPADES) und Mitglied der Beratenden Gruppe für Sicherheitsfragen der guatemaltekischen Regierung. Im ersten Teil, veröffentlicht im letzten ¡Fijáte!, untersuchte León-Escribano die historische Entwicklung und Rolle der Sicherheitsinstitutionen sowie die normativen Rahmenbedingungen, die es unmöglich machen, dass das staatliche System der Wahrung innerer Sicherheit funktioniert. Die HauptproblemeTrotz dieses normativen Rahmens waren die jeweiligen Regierungen nicht in der Lage, eine öffentliche Sicherheitspolitik zu entwickeln. Ohne eine mittel- und langfristige Perspektive haben die entsprechenden Aktionen einen konjunkturellen Charakter und es fehlt ihnen eine Vision, die über die jeweilige Regierungszeit hinausgeht. Gegenüber dem wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit verfallen die Behörden in Aktionen mit repressivem Charakter, die keinerlei Veränderungspotential in sich haben. Mit dem Inkrafttreten der Friedensabkommen 1997 begann die Reform der Polizei, die in den vergangenen 10 Jahren eine schwierige Phase durchlaufen hat. Begonnen hat es mit der Entscheidung des damaligen Präsidenten Alvaro Arzú, 90% der ehemaligen Nationalpolizei in den neuen Apparat zu integrieren. Erwartungsgemäss durchdrangen die alten Laster und Vorgehensweisen die Institution und die Idee, die mittleren und oberen Kader auszuwechseln, wurde zu einem Ding der Unmöglichkeit. Schwierig war ebenfalls die Entscheidung während der Regierung der Republikanischen Front Guatemalas (FRG), die Richtlinien für eine Militärkarriere zu ändern, was erlaubte, dass der Polizeidirektor eine institutionsferne, ohne ein spezifisches Profil entsprechende Person sein kann. Eine Folge von dieser Entscheidung ist ein wenig professionelles Polizeikorps, dessen Verhalten nicht der Doktrin entspricht und deren Leistungen sowohl qualitativ als quantitativ unbefriedigend sind. Bei der Klassifizierung von Delikten gibt es drei Problemfelder, die im Konzept der zivilen Sicherheit zusammenkommen. Das erste ist die Existenz von klandestinen Strukturen, die sich während des internen Konfliktes im Schutze des Staates entwickeln konnten und die sich, weil sie die Institutionen bestens kennen, haben einnisten und ausbreiten können bis hin zur Übernahme der absoluten Kontrolle dieser Institutionen. Diese Strukturen setzen heute die Regierbarkeit einer schweren Prüfung aus und sind zu einem grossen Teil für die Straflosigkeit verantwortlich, die Strafverfolgungen und Verbrechensbekämpfung fast unmöglich macht. Die zweite Dimension finden wir im organisierten Verbrechen, das sowohl ein Produkt von transnationalen Verbindungen wie von Operationszellen der klandestinen Strukturen ist. Und die dritte ist die allgemeine Delinquenz, die teilweise durch lose und konjunkturelle Verbindungen mit den ersten beiden in Verbindung steht. Das beste Beispiel für diese dritte Dimension sind die maras (Jugendbanden), die Verbrechen begehen einerseits, um das eigene Überleben als Gruppe zu sichern, andererseits im Auftrag des organisierten Verbrechens. Überfälle auf öffentliche Transportmittel oder die zunehmende Ermordung von Frauen können demgemäss Einzelverbrechen sein, oder aber auch Teil klarer Strategien innerhalb grösserer Allianzen. Um in seinen Antworten auf die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Sicherheit effizienter zu sein, muss der Staat diesen drei Dimensionen integral und koordiniert begegnen. Als Kernprobleme der zivilen Sicherheit können folgende Punkte genannt werden: 1. Fehlen eines zivilen Geheimdienstes: Geheimdienstaktivitäten in einer demokratischen Gesellschaft dienen dazu, Informationen zu beschaffen, zu analysieren und zu verarbeiten, um den Aktivitäten des (organisierten) Verbrechens vorzubeugen. Da es in Guatemala bisher nur einen militärischen Geheimdienst gab, braucht es im Rahmen eines Transformationsprozesses die Schaffung und Stärkung eines zivilen Geheimdienstes. Deshalb wurden die Direktion des zivilen Geheimdienstes unter dem Innenministerium und das Sekretariat für strategische Analysen, das direkt dem Präsidenten unterstellt ist, geschaffen. Da beide Institutionen nicht oder nur beschränkt funktionieren, ist der Präventionseffekt gleich null. Polizeiinterventionen beschränken sich deshalb auf reaktionäre Aktionen, auf Präsenz der Patrouillen an Orten des Verbrechens; aber es fehlt an koordinierten Aktionen, um der wachsenden Kriminalität etwas entgegenzusetzen. Es wird mehr auf die Anzahl der PolizistInnen und ihre Ausrüstung gesetzt, denn auf ihre Ausbildung und Spezialisierung. In der Vergangenheit war man auf die Informationen des militärischen Geheimdienstes angewiesen. Heute - und das ist noch viel schlimmer - gibt es Hinweise darauf, dass das Innenministerium seine Information aus privaten Kreisen bezieht. So wurden im Jahr 2004 vom Innenministerium für mehr als 18,000.000.00 (?) Quetzales Geheimdienstinformationen "gekauft". 2. Mangelhafte kriminalistische Untersuchungen: Es existiert eine gravierende Lücke in der Koordination von Ermittlungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Polizei. In Guatemala werden nur 5% der "Delikte gegen Leib und Leben" aufgeklärt. Dies u. a. deshalb, weil es keine klare Aufgabenteilung gibt zwischen den beiden Institutionen, was zu Beweisverlusten und Spurenverwischungen am Tatort führt. In beiden Institutionen fehlt es an spezialisiertem Personal. In diesem Zusammenhang ist es dringend notwendig, das Nationale Institut für forensische Wissenschaften (INACIF) finanziell auszustatten, damit die Laboratorien zusammengeführt, technisch aufgerüstet und die Untersuchungen koordinierter durchgeführt werden können, so dass den StaatsanwältInnen schlüssigeres Beweismaterial zur Verfügung gestellt werden kann. Die Ineffizienz der Untersuchungen beeinflusst den hohen Grad an Straflosigkeit innerhalb der Institutionen, wodurch interne Kontrollen und Disziplinarverfahren mangels Beweisen oftmals nicht durchgeführt werden können oder eingestellt werden müssen. 3. Langsame Beschlussfassung der Gerichte: Zu den mangelhaften Untersuchungen kommt das langsame Vorgehen der Gerichte. Beides zusammen führt zu einem Vertrauensverlust in die Justiz und fördert die Straflosigkeit. Die Mehrheit der Gerichtsbeschlüsse wird aufgrund von (oft falschen) ZeugInnenaussagen und nicht aufgrund von handfestem Beweismaterial getroffen, was nicht zur Glaubwürdigkeit der Justiz beiträgt. Die Langsamkeit bei der Urteilsverkündung wirkt sich negativ auf die Situation in den Gefängnissen aus, wo die Mehrheit der Gefangenen (fast 60%) ohne Urteil sitzt. 4. Kollabierendes Gefängnissystem: Bis vor kurzem war Guatemala das einzige Land des Kontinents, das kein Gesetz über das Gefängniswesen hatte. Die Probleme in den Gefängnissen sind vielfältig. So gibt es z.B. keine Instanz, die für die Ausbildung und Qualifizierung des Gefängnispersonals zuständig ist. Gefängnisse werden als Ort der Strafe und nicht als Ort der Rehabilitation verstanden. Es mangelt an Geldern, die Infrastruktur und entsprechend die hygienischen Bedingungen sind katastrophal, die Sicherheitsvorkehrungen mangelhaft und es gibt keine nach Verbrechen aufgeteilte Gefangenen-Kategorien. Ebenso wenig wird unterschieden nach Untersuchungs- und verurteilten Gefangenen. 5. Mangelnder Opferschutz: Die Aufgabe des Staates ist nicht nur die Vorbeugung oder Bekämpfung von Verbrechen, sondern auch der Schutz von und die Wiedergutmachung an den Opfern. Der vorher beschriebenen Logik zufolge wird die Figur des Opfers verwischt durch ein Konzept, in dem jede Person grundsätzlich verdächtigt wird. Ein neues Modell, das mit und für die BürgerInnen steht, muss Aktivitäten entwickeln, die nicht nur den Schutz der Person ins Zentrum setzen sondern auch Mechanismen kennen, um die Opfer zu entschädigen. Nach oben |
Auf der Suche nach LösungenReorganisierung und Stärkung der Institutionalität von Sicherheit und Verteidigung Nach einer Analyse der Sicherheits-Situation drängt es sich auf, für eine Stärkung der - zivilen - Institutionen zu plädieren, die den neuen Herausforderungen einer demokratischen Sicherheit gewachsen sind. Dazu braucht es nicht bloss eine übergeordnete Instanz, deren Aufgabe die Erarbeitung einer Nationalen Sicherheitsagenda und -politik ist, sondern es braucht auch die entsprechenden Mechanismen, Abläufe und klaren Richtlinien für ein gemeinsames Handeln, um diese Politik umzusetzen und koordinierte/gemeinsame Aktionspläne zu entwickeln. In diesem Sinne schlug die Beratende Gruppe in Sicherheitsfragen (CAS) ein Nationales Sicherheitssystem vor, das die Reform der involvierten Institutionen und eine klare Aufgabenteilung bzw. -zuweisung vorsieht. Im Rahmen dieses Systems (das dem Präsidenten unterstehen soll) wird ein oberstes Organ, der Nationale Sicherheitsrat, geschaffen, dem neben dem Präsidenten der Vizepräsident, die Innen-, Verteidigungs- und AussenministerInnen angehören sowie das Sekretariat für strategische Analysen. Letzteres soll die Geheimdienste der verschiedenen Instanzen koordinieren. Ebenfalls wird die Transformation des aktuellen Innenministeriums in ein Sicherheitsministerium vorgeschlagen, dem die präventiven, abschreckenden und reaktiven Polizeikorps unterstehen, ebenso wie die verschiedenen Abteilungen der Kriminalpolizei, das Gefängniswesen und die zivile Instanz zur Vergabe von Waffenlizenzen und Munition. Funktionen wie diejenigen der Nationalen Druckerei (Bewilligungen von Vereinsgründungen und Lotterien), die heute auch dem Innenministerium angehört, würden anderen Instanzen übergeben werden. Im Falle der Zivilen Nationalpolizei müssten der Bereich der Prävention und die Mechanismen zur internen Kontrolle ausgebaut werden. Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass das Problem in denjenigen Einheiten vorherrscht, die zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens eingesetzt werden. Deshalb reicht es nicht, die über 1700 angesammelten internen Beschwerden zu untersuchen und gegebenenfalls Disziplinarverfahren und die juristischen Schritte einzuleiten, sondern es muss auch ein Anforderungsprofil mit klaren Bedingungen für zukünftige Mitglieder dieser Einheit erstellt werden. In der heutigen Situation und angesichts der weit verzweigten Netze des organisierten Verbrechens innerhalb der Polizei, müssen die oben beschriebenen Prozesse von internationalen SpezialistInnen begleitet werden, um die notwendige Objektivität und Effizienz sowie den entsprechenden Rückhalt zu garantieren. Es darf nicht vergessen werden, dass kürzlich verschiedene Personen, die mit der Untersuchung polizeiinterner Klagen beauftragt waren, umgebracht wurden. Im nationalen Kontext ist die Einsetzung der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) dringend notwendig. Gemäss der Myrna Mack-Stiftung zeichnet sich die CICIG als fundamental ab, um Untersuchungen und Prozesse gegen das von den illegalen Körperschaften und klandestinen Strukturen (CIACS) ausgehende Phänomen der politischen Gewalt einzuleiten. Gleichzeitig hilft sie, die Kapazitäten der staatlichen Sicherheitsinstitutionen zu stärken und Politiken zu definieren, die das Erstarken solcher Gruppierungen längerfristig unmöglichen machen. Definierung und Umsetzung einer präventiven Sicherheit Prävention ist eine Hauptkomponente von Sicherheit. Die Prävention von Delikten ist aber nicht nur eine Aufgabe der Polizei. Es gibt andere sogenannte Risiko-Faktoren im Zusammenhang mit Delikten, deren Prävention in der Verantwortung anderer staatlicher Institutionen liegt, wie z. B. der freie Zugang zu Alkohol und zu Waffen, die zunehmende Jugendarbeitslosigkeit, die geringe Kaufkraft der Bevölkerung, die grassierende Ungerechtigkeit und die beschleunigten Urbanisierungsprozesse. Die Prävention dieser Tendenzen bedarf einer öffentlichen Politik, die Ressourcen für soziale Investitionen zur Verfügung stellt. Was auf diesem Weg nicht erreicht werden kann, muss später mit mehr Polizei und mehr Gefängnissen bekämpft werden. Als normativer Rahmen für präventive Sicherheit dient das Modell der demokratischen Sicherheit, das auf zwei Hauptaktivitäten beruht, die fundamental sind für ihre Umsetzung: Die Prävention und die Partizipation der Gesellschaft. Die Prävention wird zu einem Schwerpunkt, auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Dazu braucht es das Zusammentragen, die Analyse und die Systematisierung von Informationen, um entsprechende Strategien auszuarbeiten. Je mehr vorgebeugt werden kann, desto kleiner wird die Verletzbarkeit. Anderseits ist die integrierte und gleichberechtigte Beteiligung der Bevölkerung in den verschiedenen Bereichen der Sicherheit ein wichtiger Bestandteil jeglicher Massnahmen, sollen diese erfolgreich sein. Deshalb ist es dringend notwendig, eine präventive Sicherheitspolitik zu entwickeln, um neue Formen des Zusammenlebens zu etablieren, das auf positiven Werten basiert und mehr Freiheit und Sicherheit zur Folge hat. In diesem Zusammenhang ist die Rolle der lokalen Behörden und der Kommunalen Entwicklungsräte zentral und wichtig für die Koordination und Umsetzung einer präventiven Sicherheitspolitik. Schlussbemerkung Die jüngsten Ereignisse haben dazu geführt, dass die politischen Parteien, die Zivilgesellschaft und die Regierung ihre Kräfte zusammengeschlossen haben. Es gibt eine tiefe und geteilte Überzeugung, dass wir an einem Tiefstpunkt angelangt sind und dass die Antwort auf die aktuellen Probleme nicht von einem Sektor allein gegeben werden kann. Es ist der Moment gekommen, wo die Veränderungen angepackt werden müssen und es braucht die politische Reife, diese Veränderungen als einen Prozess zu verstehen. Die Schwäche und Verletzbarkeit unserer Systeme zu politisieren reicht nicht mehr. Der Feind, der sich in Form von Korruption, Mord und Straflosigkeit konkretisiert, muss gemeinsam bekämpft werden. Präsident Oscar Berger hat die Beratende Gruppe in Sicherheitsfragen (CAS) um Unterstützung angefragt bei der Einführung eines Nationalen Sicherheitssystems und bei der Umsetzung dringender Massnahmen zur Stärkung der polizeilichen Institutionalität und zur Schaffung eines zivilen Geheimdienstes. Der Erzbischof, der Menschenrechtsprokurator und der Rektor der Nationalen Universität von San Carlos haben ein Nationales Abkommen vorgeschlagen, das in die selbe Richtung geht. Menschenrechtsorganisationen und SpezialistInnen der Thematik haben Vorschläge präsentiert, um Kontroll- und Sanktionsmechanismen innerhalb der Polizei durchzusetzen. Es besteht jetzt die Möglichkeit, den politischen Parteien das Versprechen abzunehmen, gemeinsam mit dem Rest der Gesellschaft eine demokratische Sicherheitspolitik zu entwickeln und die notwendigen Schritte einzuleiten, um die Bedürfnisse nach Sicherheit, Frieden und Freiheit der GuatemaltekInnen zu institutionalisieren. |
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