Die Wahrheit ist nichts Absolutes (Teil 1)
Fijáte 342 vom 31. Aug. 2005, Artikel 1, Seite 1
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Die Wahrheit ist nichts Absolutes (Teil 1)
Mit der Erarbeitung des REMHI-Berichts (Wiedererlangung der historischen Erinnerung) lancierte die katholische Kirche ein wichtiges Versöhnungsprojekt. Die Ermordung von Bischof Juan José Gerardi im April 1998 liess diesen Prozess in einer entscheidenden Phase zum Stocken kommen, als es nämlich darum ging, die im Bericht zusammengetragene(n) Geschichte(n) an die Bevölkerung zurückzutragen, damit sie diese mit ihrem eigenen Kontext und den persönlichen Erlebnissen einordnen konnte. Wie leistet die katholische Kirche heute ihren Beitrag zur Versöhnungsarbeit? Welche Rolle kann und will sie einnehmen, um der "Gerechtigkeit" auf sozialer und juristischer Ebene einen Schritt näher zu kommen. Im folgenden Interview gibt Jesús Hernández, Theologe und Direktor von CAFCA (Zentrum für forensische Analyse und angewandte Wissenschaften) Antworten auf diese Fragen. Der zweite Teil des Interview erscheint im nächsten ¡Fijáte!. Frage: War REMHI eine Initiative allein von Monseñor Gerardi oder war es ein Projekt der katholischen Kirche generell? Jesús Hernández: Das REMHI ist aus einer Einzelinitiative entstanden, die jedoch von einem Grossteil der katholischen Kirche gutgeheissen und unterstützt wurde. Der Anstoss kam von Monseñor Gerardi, der sich jedoch bewusst war, dass er auf Unterstützung angewiesen war. Teil eines ,,Kollektivs" zu sein, eines professionelles Teams mit einem grossen Wissen über den guatemaltekischen Kontext und die katholische Kirche als Institution hinter sich zu wissen, war sicher ausschlaggebend den Entscheid Gerardis, dieses Projekt zu initiieren. Auch Gerardi startete nicht bei Null, er ging von einem Kontext aus, den er kannte, in dem er selber gelebt hatte. Und dieses interdiözesane Projekt war für ihn eine Möglichkeit, die Opfer zu ehren und zu würdigen. Frage: Stand/steht wirklich die gesamte katholische Kirche dahinter, ungeachtet der Rolle, welche Teile dieser Institution während des Krieges spielte? J.H.:Vielleicht müssen wir zuerst definieren, von welcher Kirche wir sprechen: Von der Basiskirche oder von der Hierarchiekirche. Es gab während des Krieges sehr viele engagierte Personen innerhalb der Kirche, Katechisten, Prediger, Animatoren, junge Leute. In den 60-80er Jahren ging ein starker, eindrücklicher Impuls von der katholischen Kirche aus, der ein Bewusstseinsbildungsprozess bei vielen GuatemaltekInnen auslöste. Ich glaube, vor allem das Departement Quiché ist ein Referenzpunkt für diese Entwicklung, ebenso Huehuetenango, San Marcos oder der Petén. Es fand eine Veränderung statt vom Traditionellen über die Acción Católica zur Befreiungstheologie, hin zu den Basisgemeinden. Von DIESER Kirche spreche ich und diese Kirche steckt auch hinter der Initiative des REMHI. Frage: Und trotzdem brauchte es das Einverständnis der Kirchenhierarchie, das Projekt mit Namen und finanziell zu unterstützen. J.H.: Das stimmt. Aber ich denke, wenn ein solches Bedürfnis von der Basis her geäussert wird, müssen die klerikalen Autoritäten darauf reagieren, auch wenn nicht die gesamte Kirchenhierarchie voll und ganz dahinterstand. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Meinungsverschiedenheiten und internen Widerspruch gab. Die Position der Befürworter war, dass der Moment gekommen sei, um über die Grausamkeiten zu sprechen, weil Gott das wolle und weil Gott kein Leiden und keinen Tod wolle, und weil die Leute verstehen müssten, was geschehen ist. Frage: Hat sich seit der Publikation von NUNCA MÁS die Einstellung oder das Verhalten der katholischen Kirche verändert? J.H.: Ich glaube schon. Ich selber fühle mich als Teil eines Veränderungsprozesses, als Teil dieser Kirche. Ich war 1993 2000 im Petén tätig. Unsere Aufgabe war, eine soziale Veränderung herbeizuführen. Die Bereitschaft, diesen Prozess zu unterstützen, war riesig. Doch irgendwie sind wir steckengeblieben. Die im REMHI zusammengetragenen Erfahrungen und Geschichten hätten der Bevölkerung zurückgegeben werde sollen, um darauf eine Gegenwart und Zukunft aufzubauen. Doch wie soll etwas zurückgegeben werden, wenn sich nichts an der Situation geändert hat? Die Armut besteht weiterhin, die Marginalisierung besteht weiterhin, die Arbeitslosigkeit ebenso. Hier ist für mich ein wichtiger Punkt: Es geht nicht darum, diese erste Etappe (die Vergangenheit) abzuschliessen und uns auf die zweite Etappe (die Gegenwart) zu konzentrieren, die beiden müssen in Verbindung zueinander gesehen werden. Zum anderen hat sich die Kirche, und das ist meine persönliche Einschätzung, nach dieser ersten Phase etwas zurückgezogen aus ihrer kämpferischen Position, sie hat sich gespalten. Zwar unterstützt sie z. B. noch den Kampf von Monseñor Ramazzini in San Marcos, unterstützt gewisse Initiativen, aber doch eher vereinzelt. Ich habe den Eindruck, die Kirche hat einen eher konservativen Weg eingeschlagen, denkt und überdenkt sich selber. Für mich ist das in Ordnung, solange es eine Phase ist, ein Reifeprozess, eine Art Zwischenhalt, um sich klarzuwerden, wo wir als Kirche stehen, was unsere Realität ist und wie wir weiteragieren wollen. Frage: Gibt es aus der heutigen Perspektive Aspekte, die dem REMHI fehlen, die anders hätten gemacht werden müssen? J.H.: Man darf das REMHI nicht als ein abgeschlossenes Werk betrachten. Es musste eine Form gefunden werden, es musste systematisiert werden, um es publizieren zu können. Aber es ist auf keinen Fall komplett, viele Leute beginnen erst heute, über ihre Geschichte zu sprechen. Wir merken das bei den Exhumierungen, die wir heute durchführen. Viele der Massaker, deren Opfer wir heute exhumieren, sind weder im REMHI noch im Bericht der Wahrheitskommission CEH festgehalten. Der Slogan, mit dem das REMHI gearbeitet hat - "Es ist Zeit zu sprechen" - hat heute also noch genauso seine Gültigkeit wie damals. Darüber zu sprechen war ein erster Schritt. Der zweite Schritt, in dem sich heute einige Diözesen befinden, ist die Neuinterpretation der eigenen Geschichte. Sie schreiben, wie sie es nennen, ihr "lokales" REMHI. Für mich ist klar: Das REMHI ist kein in sich geschlossenes Werk, es hat dazu beigetragen, die Herzen und Wunden zu öffnen und die Leute zum Sprechen anzuregen. Jetzt ginge es darum, den Prozess weiterzuführen, und genau dies hatte Gerardi vor. Frage: Aber just dieser Prozess wurde mit der Ermordung von Gerardi blockiert... J.H.: Genau. Würde Gerardi noch leben, hätte er diese zweite Komponente eingeleitet. Schauen wir uns die verschiedenen Elemente an, die dem REMHI noch fehlen: Das Thema Justiz zum Beispiel. Oder die grosse Frage, ob es in Guatemala Genozid gab oder nicht, eine sowohl ethische wie auch juristische Frage. Frage: Die Verantwortlichen beschreiben ihre Version der Wahrheit über das Vorgefallene, das REMHI hat aber eine ganz andere Wahrheit ans Tageslicht gebracht. Und dann ist da noch das Verständnis von der ,,Wahrheit Gottes" der katholischen Kirche. Wie bringt man das alles zusammen? J.H.: Wenn wir von Wahrheit sprechen, müssen wir uns bewusst sein, dass in diesem Land die Wahrheit nichts Absolutes ist. Die Wahrheit ist eine Suche. Und bei dieser Suche nach Wahrheit gibt es drei notwendige Schritte. 1. Wer waren wir? 2. Was ist uns geschehen und weshalb ist uns das geschehen? Und 3. Wohin gehen wir? Auf der Suche nach der Wahrheit gibt es immer Momente des Zusammentreffens. Aber die Wahrheit macht ihren eigenen Prozess durch. Wenn wir zum Beispiel eine Exhumierung durchführen, erzählen und die Leute, was geschehen ist und wir versuchen, das Erzählte systematisch zu erfassen. Aber bei einem nächsten Besuch erzählen sie uns plötzlich mehr, andere Details, die möglicherweise der ersten Version oder einzelnen Begebenheiten darin widersprechen. Und bei einem dritten Besuch erfahren wir vielleicht noch neue, viel konkretere Details. Die Leute lügen nicht, sondern sie suchen nach ihrer eigenen Wahrheit. Dabei spielt die Erinnerung eine wichtige Rolle. Welche Erinnerung habe ich an etwas Bestimmtes? Für viele ist das Erinnern etwas Schmerzhaftes. Wenn sich die Kirche mit dieser Wahrheit konfroniert sieht, ist sie verpflichtet, ihr Engagement zu verstärken. Frage: Sie muss aber auch lernen, mit verschiedenen Wahrheiten umzugehen, weil vielleicht eine Nachbarin, die das selbe erlebt hat, ihre eigene Version der Wahrheit von dem Vorgefallenen hat. Es kann also bei dieser Wahrheitssuche nicht um die Suche nach DER Wahrheit gehen. J.H.: Genau, und deshalb sage ich, die Wahrheit ist eine Suche. Wir versuchen, ausgehend von den verschiedenen Testimonios, die uns erzählt werden, zu analysieren, was wirklich geschehen ist. Dies ist genau der Versuch, den aktuell einige Diözesen im Rahmen des REMHI machen. Auch hier müssen wir uns fragen, von welcher Wahrheit sprechen wir überhaupt? Was bedeutet Opfer, was bedeutet Täter? Was bedeuteten die verschiedenen Engagements der Leute, was war ihr Konzept von "Kampf"? Möglicherweise war es damals die einzig richtige Art von Kampf, doch heute merken sie, dass sie damit Angst und Schrecken, Misstrauen und Tod erzeugt haben. Die Kirche steht vor der Herausforderung, anzuerkennen und damit umzugehen, dass die Wahrheit nichts Eindeutiges, sondern ein Prozess ist. Frage: Wie wird die Vergangenheit in die religiöse Praxis eingebunden und was macht die katholische Kirche auf spiritueller Ebene, um den Versöhnungsprozess voranzutreiben. J.H.: Das ist regional unterschied- Nach oben |
lich. Im Ixcán z. B. wird der Todestag von Pfarrer Guillermo Woods feierlich begangen, aber es werden auch die anderen Massaker erinnert. Es wird erinnert, es wird gewürdigt und es wird nicht vergessen. Es geht ums Verstehen, um den Respekt und um das Recht, diese Momente überhaupt zu erinnern. Solche Prozesse finden aber nicht überall statt und repräsentieren nicht das Gefühl der gesamten katholischen Kirche. Der Impuls muss nicht einmal dringend von der Kirche ausgehen. Im Ixcán ist es die Bevölkerung, welche die jährlichen Erinnerungsfeierlichkeiten organisiert, im Petén hingegen geht der Anstoss, jährlich an das Massaker von Dos Erres zu erinnern, klar von der Kirche aus. Der Jahrestag der Ermordung von Monseñor Gerardi hingegen wird jedes Jahr von der gesamten katholischen Kirche erinnert. Der Fall Gerardi ist für viele Leute ein Präzedenzfall dafür, dass diese Verbrechen nicht in der Straflosigkeit bleiben dürfen. Die Kirche hat im Zusammenhang mit Gerardi die Themen ,,Erinnerung" und ,,Gerechtigkeit" breit lancieren können. Weiter ist die Kirche bei den Feierlichkeiten am ,,Tag der Würdigung der Opfer" (25. Februar) mit dabei. Die Kirche setzt sich dabei vor allem für eine ökonomische Wiedergutmachung ein, und macht einen Aufruf gegen die Gewalt und für den Respekt des Lebens. Dies ist nicht ein einsamer Ruf gegen die Gewalt, sondern es ist ein Ruf gemeinsam z. B. mit der lutherischen Kirche. Es die Suche nach einem Dialog, nach einem ökumenischen Geist und es geht auch darum, die aktuell stattfindende Gewalt beim Namen zu nennen. Frage: Wenn nun nach einer Exhumierung die Beerdigung stattfindet, ist die Todesursache ein Thema in der Predigt des Pfarrers? Wird in den Messen über die erlittene Gewalt gesprochen? J.H.: Eine Exhumierung ist ein wichtiges Thema für die ganze Gemeinde. Es werden nicht nur Knochen ausgegraben, es geht um eine Person. Die Beziehung zu dieser Person, sei es seitens den Eltern, der Geschwister oder der Kinder, ist eine Beziehung tiefen Respekts und wird auch so manifestiert. So wird z. B. bei einer Exhumierung zuerst die ,,Person" um Erlaubnis gefragt, bevor ihre Reste angefasst werden. Der Person wird beschrieben, was mit ihr gemacht wird, dass sie angefasst und aus der Erde herausgenommen wird. Es wird erzählt, wie es der Familie geht, dass die Kinder in der Zwischenzeit gewachsen oder dass sie unterdessen Grosseltern geworden sind. Es ist ein tiefer, heiliger, respektvoller Dialog, der mit der toten Person geführt wird, ein Dialog voller Spiritualität. Auch die Erde wird um Erlaubnis gebeten, in ihr zu graben und es wird ihr dafür gedankt, dass sie die Person behütet hat. Die Exhumierungen, die wir als Kirche anregen und begleiten, ist Teil eines Versöhnungsprozesses. Es ist uns wichtig, dass dieser Prozess nicht auf der individuellen Ebene, von Du zu Du bleibt, sondern dass die ganze Gemeinde daran teilnimmt. Denn erst dann wird er als versöhnend, heilend wahrgenommen. Es soll über Hass und Neid, über Macht und Manipulation gesprochen werden und über die Gewalt, die in den Gemeinden geherrscht hat. Dies sind wichtige Elemente des Versöhnungsprozesses und dies aufzuzeigen, ans Licht zu bringen und zu beweisen, ist die Aufgabe des REMHI. Wir begleiten diesen Prozess (mit den Exhumierungen) und es macht uns nichts, wenn sich jemand in einem Detail irrt, wenn das Gedächtnis nicht mehr alles erinnert, die Farbe der Kleider oder das genaue Alter, denn das können wir wissenschaftlich nachweisen. Das sind Nebensächlichkeiten. Wichtig ist, zu sagen, dass niemand lügt, dass das, was die Leute erlebt haben, real ist. Frage: Sie haben sehr eindrücklich beschrieben, dass die Exhumierung ein Prozess ist, an der die ganze Gemeinde teilnehmen kann, ein Moment der Solidarität. Bleibt diese Gemeinschaftlichkeit und Solidarität auf die Vergangenheit beschränkt oder werden solche Momente auch genutzt, um andere gemeinschaftliche Prozesse anzutreiben? Prozesse, die über das OpferTäter-Schemadenken hinausgehen? J.H.: Ich glaube, man sollte die Sachen nicht zu sehr vermischen und an einer Exhumierung nicht zuviel aufhängen wollen. Es kann sein, dass vor einer Exhumierung alles in Ordnung, alles in bester Ruhe war innerhalb einer Gemeinde. Im Moment, wo eine Exhumierung vorgeschlagen wird, öffnen sich Wunden, leben Beziehungsformen auf, die im Laufe der Zeit überdeckt und verdeckt wurden. Wenn wir nun mit dem Exhumierungsprozess beginnen, wird die Geschichte wiederbelebt und die Leute beginnen vielleicht plötzlich zu verstehen, wo die Widersprüche in ihrer Gemeinde lagen, weshalb es so viele Tote gegeben hat. Ob man will oder nicht, solche Prozesse haben einen Einfluss auf das heutige Zusammenleben innerhalb einer Gemeinde. Ich kenne Gemeinden, wo es zu Spaltungen kam über die Frage, wer das Recht dazu hat, über die Vergangenheit zu sprechen. Wo die einen sagten ,,Ich habe Opfer in meiner Familie und deshalb das Recht, zu sprechen, und du nicht, weil du keine Opfer hast". Oder ,,Du warst in diesen Jahren dort und dort (bei der Guerilla, beim Militär) und deshalb bist du dafür verantwortlich, was in unserer Gemeinde geschehen ist". Dies generiert eine Distanzierung innerhalb der Gemeinde und man darf eine Gemeinde damit nicht allein lassen. Wir können nicht einfach kommen, unsere Arbeit machen, die Knochen ausgraben, wieder eingraben, ein Monument aufstellen und wieder gehen. Wir haben eine ethische, eine historische Verantwortung, der Gemeinde zu helfen. Was wir versuchen ist, zusammen mit der ganzen Gemeinde die Geschichte aufzurollen, die Testimonios anzuhören und zu kennen. Es ist wichtig, die ganze Geschichte zu verstehen und ihre Konsequenzen zu kennen und zu verstehen. Und es ist wichtig, dies mit den Leuten zu diskutieren, ihnen aufzuzeigen, was wirklich geschehen ist. Man kann dies Wiederherstellung des sozialen Gefüges nennen, oder Wiederherstellung der Gemeindestrukuren. |
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