Tödliche Kettenreaktion in Gefängnissen zwischen Maras
Fijáte 342 vom 31. Aug. 2005, Artikel 3, Seite 4
Original-PDF 342 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 --- Nächstes Fijáte
Tödliche Kettenreaktion in Gefängnissen zwischen Maras
Guatemala, 28. Aug. Mit dem Rücktritt der Gefängnisdirektorin Patricia de Che im Mai, der auf den Skandal um den Genuss von Alkohol, Handytelefonaten und anderen Privilegien in den Haftanstalten zurückging (siehe ¡Fijáte! 335), hatte die Diskussion um die prekäre Situation in diesen keinerlei Veränderung erfahren. Die Dringlichkeit grundlegender Reformen des Systems, der Formulierung von Gesetzen und der Billigung eines adäquaten Etats ist seit langem bekannt, derzeit blockiert v. a. die Regierungspartei GANA entsprechende Massnahmen. Am vorletzten Montag, 15. August, traf dieses Thema nun auf ein weiteres, im Zusammenhang mit der allgemeinen Unsicherheitssituation, in der die Bevölkerung lebt, brisantes und gefürchtetes: das der Jugendbanden, der so genannten Maras. Diese halten AnwohnerInnen bestimmter Stadtviertel in ständiger Angst, ziehen wie ein Kolumnist feststellte, erfolgreicher als der Staat selbst von Hausbesitzenden, Busfahrern und Eltern Steuern ein, im Gegenzug, nicht in die Häuser einzubrechen, die Busse nicht zu überfallen oder die Töchter nicht zu vergewaltigen. Daneben sind die Maras durchaus auch verantwortlich für diverse ,,gemeine" Verbrechen, von Autodiebstahl illegalem Waffenbesitz, Drogenhandel, Entführung bis zu Morden. In Guatemala, wie in anderen zentralamerikanischen Ländern, dominieren zwei grosse Jugendbanden, die beide ihre Wurzeln in den salvadorianischen Kriegsflüchtlingen finden, die in die USA emigriert, sich dort organisiert, andere MittelamerikanerInnen rekrutiert haben und wieder zurück in die Heimatländer gekommen bzw. aufgrund von Delikten oder illegalem Aufenthalt deportiert worden sind: Die Mara Salvatrucha (MS) und die Mara 18, die auf Kriegsfuss miteinander stehen, was vornehmlich auf dem Hegemoniekampf in Sachen Drogen und Territorium beruht. Dennoch existierte bis zu jenem Montag ein ,,Nicht-Angriffspakt" zwischen der ,,MS" und der ,,18". Wie genau er gebrochen wurde, ist nicht bekannt, ein Anführer der Mara 18 sieht die Schuld im Einfluss der Polizei, ,,die bestimmte Anführer der ,,18" eliminieren wollte. Die Gruppe ist so gewachsen, dass die Beamten Angst bekommen haben", schreibt er in einem E-Mail-Interview. Jedenfalls kam es am Montagmorgen zu einem Überraschungsangriff von inhaftierten Mitgliedern der ,,MS" auf Leute der ,,18", und zwar per Handy synchronisiert in neun Gefängnissen des Landes gleichzeitig. Die Attacke mit Schuss- und Stichwaffen sowie Splittergranaten fand - die Zahlen schwanken rund 35 Tote und zwischen 80 und 100 Verletzte, grossteils unter der ,,18". Die Pressemitteilungen der folgenden Tage werfen ein Durcheinander von Puzzle-Teilen, Hypothesen und Fakten auf im Versuch, das Geschehene zu verstehen, zu deuten und selbstverständlich die ,,Schuldigen" zu finden. Die Polemik bleibt dabei nicht aus und führt zu einer gefährlichen Meinungsmache, die die Gesellschaft erhitzt. ,,Wie gut, dass diese verfluchten Idioten in den Gefängnissen sich gegenseitig abschlachten, anstatt frei auf der Strasse herumzulaufen und unschuldige und unbewaffnete Personen zu ermorden!" ist noch einer der harmloseren Kommentare. Innenminister Vielmann ist nicht weniger abschätzig in seinen Äusserungen: ,,Diese mareros sind Verbrecher, Vergewaltiger und Mörder, die den Ärmsten dieses Landes Schaden zufügen; sie verdienen nichts anderes als die Verfolgung durch die Polizei und Gefängnis. Ich hoffe, die Bevölkerung schenkt ihnen keinen Glauben", so sein Kommentar hinsichtlich der Beschuldigung der Polizei als Drahtzieher der Aktion. Dabei ist seine eigene Weste ohnehin mehr als befleckt, informierte doch die Chefin der Pflichtverteidigungsabteilung der Staatsanwaltschaft, Tage vor dem Blutbad die Vize-Innenministerin in Kenntnis gesetzt zu haben, dass es diverse Waffen in den Gefängnissen gebe. Dies war ihnen von ihren Mandanten in den Haftanstalten anvertraut worden. Auch die ehemalige Gefängnisdirektorin de Che versicherte aus Erfahrung, jegliche geplante Aktion in den Installationen würde von den Insassen in irgendeiner Weise angekündigt. Schliesslich gab selbst Vizepräsident Eduardo Stein zu, dass die Regierung zumindest von den Sprengkörpern gewusst habe, eine Razzia in Planung war, diese jedoch zu einem späteren Zeitpunkt unangekündigt durchgeführt werden sollte. Wie aber kamen die Waffen überhaupt in die Knäste hinein? Als Hauptverdächtige gelten die Wächter und Schlüsselmänner, die bestimmte Türen offen gelassen haben sollen bzw. mit ganzen Koffern voll Waffen gesehen worden sind. Eine Erklärung wird auch schnell geliefert: Zum einen sind die Häuser mehr als überlastet, mehr als 1´000 Insassen sollen von 30 oder gar weniger schlecht ausgebildeten und mager ausgerüsteten Wächtern beaufsichtigt werden, während diese einen Hungerlohn verdienen, Gründe genug, diesen durch Korruption aufzubessern. Die Staatsanwaltschaft steht nun vor dem Problem, keinen Zugang zu den Tatorten zu haben, da alle Gefängnisse von den Häftlingen regiert werden, welche zudem einen Schweigekodex pflegen. Nach oben |
Und die eigentlich Zuständigen können die Sicherheit der ErmittlerInnen nicht garantieren, womit die Aufklärung der Massaker wohl im Dunkeln bleiben wird. Nichtsdestotrotz wurden bereits 22 ,,MS"-Verdächtige festgenommen und bei punktuellen Durchsuchungen einige Waffen konfisziert. Als konkrete Massnahmen wurden erst einmal die Mitglieder der beiden Maras in den Gefängnissen mehr schlecht als recht voneinander getrennt und zum Teil verlegt. Da die ,,18" angekündigt hat, ihre Toten zu rächen, wurde die Polizeipräsenz in den bereits als ,,rote Zonen" bekannten Gebieten in der Stadt deutlich verstärkt, dennoch bleibt die Befürchtung, dass sich die Kontrahenten nun offen auf der Strasse bekriegen werden. In mittelfristiger Planung ist der Bau von neuen Gefängnissen, vier mittelgrossen und zwei Hochsicherheitsanstalten. Diskutiert wird derweil, inwiefern ehemalige Militärkasernen zu Zuchthäusern umgebaut werden können. Die Hypothesen in Bezug auf diejenigen, die ,,dahinter" stecken, decken ein weites Schlammfeld ab. In der Tageszeitung elPeriódico wird darauf Bezug genommen, dass die Gefängnisattacke zu einem Zeitpunkt stattfand, in dem eine grundlegende Säuberung der Nationalen Zivilpolizei (PNC) durchgeführt und ein ernsthafter Ausbildungsprozess der Sicherheitskräfte in Angriff genommen wird. ,,Auch gibt es Anzeigen, dass Waffen schweren Kalibers von Polizisten in die Gefängnisse eingeschleust worden sind. Sind diese Ereignisse Teil einer Konspiration der internen, verkrusteten Mafia der PNC gegen den Säuberungsprozess und die institutionelle Stärkung?" fragt das Blatt. Laut der Prensa Libre gibt es drei Theorien: ,,Entweder wurde die Waffenausstattung vom organisierten Verbrechen besorgt, da die Leute der ,,18" den Drogenhandel in den Gefängnissen für sich beanspruchen; die Autoritäten selbst haben die Bandenmitglieder bewaffnet, damit sie sich untereinander beseitigen oder eine gewöhnliche Auseinandersetzung zwischen den Maras ist eskaliert." elPeriódico hat derweil zumindest einen Nutzniesser des Geschehens ausgemacht und beruft sich dabei auf dem Militär nahe stehende Quellen: Es handelt sich um Byron Lima Oliva, hoher Militär und verurteilt wegen seiner vermutlichen Teilnahme am Mord an Bischof Juan Gerardi. Lima wird die Herrschaft über rentable Geschäfte im Untersuchungsgefängnis in der Zone 18 der Hauptstadt zugeschrieben, bis er in das Hochsicherheitsgefängnis ,,el Boquerón" im Departement Santa Rosa verlegt wurde. Das derzeitige Chaos erlaubt ihm, in das der Hauptstadt nahe liegende Gefängnis ,,Pavoncito" zurück zu kehren, von wo aus er seine florierenden Unternehmen wieder in die Hand nehmen kann. |
Original-PDF 342 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 --- Nächstes Fijáte