Mehrwertsteuererhöhung: Demokratie auf die Probe gestellt
Fijáte 242 vom 22. Aug. 2001, Artikel 4, Seite 4
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Mehrwertsteuererhöhung: Demokratie auf die Probe gestellt
Guatemala, 18. Aug. Seit der Grossdemonstration vom 1. August und dem repressiven Einsatz der Polizei und des Militärs gegen die Bevölkerung, sind im ganzen Land die Proteste gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 10% auf 12% weitergegangen. Die Proteste finden auf zwei Ebenen statt, auf der Strasse und vor Gericht: Im Petén, in Huehuetenango, Quetzaltenango, Salamá, Retalhuleu, San Marcos und anderen Städten fanden im Verlauf der letzten zwei Wochen Demonstrationen statt, organisiert von den lokalen Volks-, Gewerkschafts- und StudentInnenorganisationen. Auf juristischer Ebene wurden insgesamt vier Beschwerden beim Verfassungsgericht eingereicht, die aus je unterschiedlichen Gründen die Annullierung der Mehrwertsteuererhöhung fordern. Das Zentrum zur Verteidigung der Verfassung (CEDECON) begründet seine Beschwerde damit, dass 22 Abgeordnete der FRG in ein Verfahren involviert seien, weshalb ihre Stimmabgabe im Kongress nicht rechtsgültig sei. Ein weiterer Rekurs reichte diejenige Gruppe ein, die in den Wochen vor dem Kongressentscheid jeweils am Freitag die Protestaktionen gegen die Mehrwertsteuererhöhung organisierten. Ihre Begründung ist, dass politische Entscheide mit dermassen weitgehenden Konsequenzen, laut Verfassung einem Volksentscheid unterstellt werde müssen. Die Splitterpartei Union der nationalen Hoffnung (UNE) begründete einen Gesetzesvorschlag zur Ausserkraftsetzung der Mehrwertsteuererhöhung damit, dass die Bevölkerung nicht in der finanziellen Lage sei, eine solche Erhöhung zu verkraften. Ähnlich begründen die ArbeiterInnenvereinigung UGT und die StudentInnenvereinigung AEU ihre gemeinsam eingereichte Beschwerde. Sie unterstützten ihre Aktion mit einem Hungerstreik, den eine Gruppe von StudentInnen und GewerkschafterInnen während zehn Tagen vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts durchführte. Während dieser Zeit sammelten sie über 30'000 Unterschriften von Leuten, die ihren Protest und ihre Forderungen unterstützen. Nach oben |
Nun konzentriert sich natürlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Verfassungsgericht. Wie wird es entscheiden? Was geschieht, wenn es gegen die FRG entscheidet und die Erhöhung der Mehrwertsteuer als nicht verfassungskonform erklärt? Die ersten Reaktionen des Verfassungsgerichts auf den Druck der Organisationen zeugen nicht gerade von Weisheit und Überlegenheit: Verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen, wie z. B. der Gruppe gegenseitiger Hilfe (GAM) oder dem Politiker Alvaro Colóm, wurde es verwehrt, sich den eingereichten Beschwerden anzuschliessen, mit der Begründung, diese Form von Mehrfachbeschwerden sei in der Verfassung nicht vorgesehen. Auf den Hungerstreik, der vor ihren Türen stattfand, reagierte das Verfassungsgericht in einem scharfen Ton. Anlässlich einer Pressekonferenz erklärte der Präsident des Gerichts, Rodolfo Rohrmoser, das Verfassungsgericht lasse sich nicht erpressen. Er ging sogar soweit zu sagen, der Hungerstreik sei erbärmlich, respektlos und illegal. "Die Aufgabe des Verfassungsgerichts ist die Verteidigung und Durchsetzung der Verfassung. Diese Aufgabe darf weder bedroht noch gestört werden", hiess es in der Erklärung, die Rohrmoser der Presse vorlas. Damit begab er sich auf ein heisses Terrain, ist es doch in anderen Situationen genau die Aufgabe des Verfassungsgerichts, das Recht der Bevölkerung auf gewaltfreien Protest und das Recht auf freie Meinungsäusserung zu verteidigen. Seinen ersten Entscheid in Sachen Mehrwertsteuererhöhung fällte das Verfassungsgericht am 15. August: Es beschloss KEINE provisorische Aufhebung der Erhöhung, solange die Beschwerden vor Gericht behandelt werden, wie das die UGT und die AEU gefordert hatten. Die beiden Organisationen bezeichneten den Entscheid als politisch beeinflusst und als Zeichen der Abhängigkeit des Gerichts von der FRG. Sie fordern eine öffentliche Verhandlung, bei der sie ihre Argumente vorlegen können, was vom Gericht akzeptiert wurde. Das Datum für diese Verhandlung steht noch aus. Es sieht alles danach aus, dass es eine langwierige und komplizierte Verhandlung geben wird. Doch ein wichtiger Entscheid - und dieser richtet sich klar gegen das guatemaltekische Volk - wurde bereits gefällt. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer bleibt in Kraft, ist also Tatsache und definiert einen neuen Status Quo, an den sich die Bevölkerung zu gewöhnen hat: Höhere Preise für Grundnahrungsmittel, höhere Transportkosten und generell höhere Lebenskosten. Und, eine weitere Lehre, die aus dieser Geschichte gezogen werden kann: Demokratie bedeutet noch lange nicht, dass die Meinung des Volkes ernstgenommen wird, und falls diese Meinung zu stark ausgedrückt wird, sind schnell die altbekannten repressiven Kräfte zur Hand, um "Recht und Ordnung" wieder herzustellen. |
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