Ein historisches Urteil, aber nicht das Ende der Straflosigkeit
Fijáte 238 vom 27. Juni 2001, Artikel 1, Seite 1
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Ein historisches Urteil, aber nicht das Ende der Straflosigkeit
Das am 8. Juni gefällte Urteil im Mordfall des Weihbischofs Gerardi wird allgemein als ein wichtiger Schritt im "Kampf gegen die Straflosigkeit" in Guatemala gewertet. Dies stimmt sicher, darf aber nicht als das "Ende der Straflosigkeit" gewertet werden. Der folgende Artikel ist ein Versuch, das Urteil gegen die drei Militärs und Priester Orantes im aktuellen politischen Kontext zu verstehen. Es geht dabei in erster Linie darum, Fragen aufzuwerfen, die auch durch die Verurteilung der vier Angeklagten nicht befriedigend geklärt wurden. Grundlage für den Artikel bildeten verschiedene Artikel aus guatemaltekischen Tageszeitungen sowie eine persönliche Einschätzung des Urteils von Juan Ramón Ruíz, URNG-Vertreter in Europa. Der ProzessAls am vergangenen 23. März die Schlussverhandlung im Fall Gerardi begann, konnte man die BeobachterInnen des Prozesses in drei Gruppen aufteilen: Diejenigen, die 'a priori' von der Schuld der Angeklagten überzeugt waren, diejenigen, die von ihrer Unschuld überzeugt waren und die dritten, die Abwartenden, die hofften, der Prozess würde endlich ein erhellendes Licht auf die brutale Tat werfen. Am Schluss des Prozesses, nach der Urteilsverkündung, bestehen die drei Gruppen immer noch: Die vom einen oder andern Überzeugten und die Zweifelnden. Auch die von der Staatsanwaltschaft angekündigten "Überraschungen" brachten nicht viel neue Informationen, weder über den Tathergang noch über die Urheberschaft. Im Verlauf der vergangenen zweieinhalb Monate erschienen zwar viele ZeugInnen vor Gericht, doch ohne nennenswerte Neuigkeiten zu den Untersuchungen der Staatsanwaltschaft beizutragen. So fanden denn auch die Anschläge und Drohungen gegen die in den Prozess involvierten RichterInnen und ZeugInnen in den Zeitungen fast mehr Beachtung als der eigentliche Prozessverlauf. Bis das Urteil gesprochen wurde... Das UrteilDas Urteil: Je 30 Jahre Gefängnis für die drei angeklagten Militärs (der frühere Geheimdienstchef, Disrael Lima Estrada, und die beiden ehemaligen Mitglieder der Präsidentengarde, Byron Lima Oliva und José Obdulio Villanueva) und 20 Jahre Gefängnis wegen Komplizenschaft für den Priester Mario Orantes. Freispruch für die Haushälterin Gerardis, Margarita López. Während das sorgfältige Vorgehen des Gerichts, präsidiert von José Eduardo Cojulún, im Verlauf der Verhandlung einmütig gelobt wurde, provozierte das Urteil unterschiedliche Reaktionen. Während es die einen als ein Zeichen des Mutes und der Unabhängigkeit der RichterInnen feierten, gibt es auch Stimmen, die sagen, das Urteil sei vorhersehbar gewesen und sei die Reaktion auf den Druck der internationalen Gemeinschaft und auf den momentan starken sozialen Druck. Von MenschenrechtsaktivistInnen, VertreterInnen der katholischen Kirche, aber auch von der nationalen und internationalen Presse wurde das Urteil einhellig gelobt: Das Gericht habe einen bedeutenden Präzedenzfall für die Suche nach der Gerechtigkeit in Guatemala geschaffen, sagte beispielsweise die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú. Amnesty International (AI), die den öffentlichen Prozessverlauf zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen begleitete, bezeichnete die Urteilsverkündung als "Tag der Hoffnung für Guatemala". Trotz den zahlreichen Verzögerungen im Prozessverlauf und den Angriffen, Drohungen und Einschüchterungsversuchen gegen RichterInnen und ZeugInnen zeige dieses Urteil, dass Straflosigkeit nicht die Regel sein müsse. Die Verantwortlichen für Tausende von Menschenrechtsverletzungen müssten zur Verantwortung gezogen werden, schreibt Anmesty International. Zweifellos ist es ein historisches Urteil. Es ist das erste Mal in der Geschichte Guatemalas, dass ein ehemaliger Geheimdienstchef und zwei ehemalige Mitglieder der Präsidentengarde wegen eines politischen Verbrechens verurteilt wurden, noch dazu von einem zivilen Gericht. Auch angesichts der aktuellen politischen Lage und der Rolle des Opfers in der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit muss die Bedeutung des Urteils hervorgehoben und anerkannt werden: Der Mord wird von den RichterInnen eindeutig als "politisch motiviert" eingestuft und das Gericht gab sich nicht zufrieden mit der blossen Verurteilung dieser vier Personen, sondern ordnete Untersuchungen gegen weitere Militär- und Geheimdienstangehörige an. Das Gericht war sich also bewusst, dass es nur ein paar "Sündenböcke" verurteilen konnte und dass die materiellen Täter sowie die weiteren Drahtzieher noch zu ermitteln sind. Präsident Portillo: "Auftrag erfüllt"Dieses Urteil allein bedeutet bei weitem nicht das Ende der Straflosigkeit in Guatemala. Zu viele Klagen und seit Jahren unaufgeklärte Fälle sind bei den Gerichten noch offen. Und auch wenn das Urteil zurecht als ein "Sieg gegen die Straflosigkeit" gefeiert wird, sollte man sich nicht darüber hiwegtäuschen lassen, dass es weder für die Militärführung noch den guatemaltekischen Staat politische Kosten hatte. Entsprechend werden sie sich auch nicht genötigt fühlen, irgendwelche Konsequenzen daraus zu ziehen. Im Gegenteil, Präsident Portillo verbucht das Urteil auf seinem Konto: Eine der ersten Reaktionen auf die Verurteilung zu 20 bzw. 30 Jahren der vier Angeklagten kam aus dem Präsidentenpalast und lautete so ähnlich wie "Auftrag erfüllt", war es doch eines von Portillos Wahlversprechen gewesen, als Präsident zurückzutreten, falls der Fall nicht innerhalb von sechs Monaten aufgeklärt sei. Die Frage, was sie unternehmen würden, um die Ermordung des Leiters des REMHI-Projektes aufzuklären, wurde im letzten Wahlkampf allen Kandidaten gestellt. Sowohl Portillo, wie auch Oscar Berger, Alvaro Colom, Acisclo Valladares Molina und eine ganze Reihe weiterer Präsidentschaftskandidaten versicherten, der Aufklärung dieses Verbrechens erste Priorität einzuräumen. Doch keiner ging soweit wie Portillo, der eine Aufklärung des Falles während seiner Regierungszeit versprach und insofern ist es auch nicht erstaunlich, dass er nun so tut, als wäre es sein ganz persönliches Verdienst. An diesem selbstherrlichen Verhalten des Präsidenten störten sich viele, unter anderem Eduardo Cojulún Sánchez, einer der drei RichterInnen, die das Urteil aussprachen. Er warf Portillo vor, sich mit fremden Federn zu schmücken. Während einige Personen ihr Leben riskierten und den Drohungen ausgesetzt seien, wolle Portillo unverdienterweise den ersten Preis davontragen. In einem ganzseitigen Inserat verteidigte das Sekretariat für Kommunikation des Präsidenten seinen Chef: Portillo habe sein Wahlversprechen eingehalten, habe er doch in keiner Weise den Prozess verhindert oder boykottiert. Dies kann man sehen wie man will, denn der zweiseitige Bericht, den der Präsident nach neun Monaten Regierungszeit auf Drängen der Staatsanwaltschaft vorlegte, hat garantiert nichts zur Aufklärung des Mordes beigetragen. Nach oben |
Angesichts seines momentan politisch unsicheren Standes, hat er es dringend nötig, den Boden, auf dem er steht, etwas zu festigen. Und zumindest die internationale Gemeinschaft gibt sich mit dieser Erklärung zufrieden, womit das Terrain geebnet ist für weitere Kredite und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Ríos Montt: "Mir ist immer noch unklar, wer Gerardi umgebracht hat"Auch Kongresspräsident Ríos Montt muss sich durch das Urteil nicht bedroht fühlen. Die Verurteilung der beiden Limas und Villanuevas schadet wohl eher der alten PAN-Regierung als der jetzigen Hardlinergruppe um Ríos Montt. Dieser war schon seit längerer Zeit mit Oberst Lima verfeindet, obwohl sie ursprünglich die gleiche Ideologie und ähnliche Repressionsmethoden vertreten hatten. Ob das Urteil im Fall Gerardi auch diejenigen RichterInnnen zu einem mutigen Urteil bestärkt, die die von elf Gemeinden gegen Ríos Montt eingereichte Anklage behandeln werden, bleibt abzuwarten. Immerhin hat es Ríos Montt vor einigen Wochen geschafft, politisch gestärkt aus dem Skandal um die Fälschung des Alkoholsteuergesetzes herauszukommen, ein Beweis dafür, dass seine Beziehungen noch funktionieren und seine Macht noch intakt ist. Weiterführung des Prozesses: politisch sinnvoll?Die Tatsache allein, dass das Urteil die Tür zu weiteren Ermittlungen öffnet, heisst noch lange nicht, dass tatsächlich Rudy Pozuelos, Eduardo Villagrán, Francisco Escobar Blas und weitere Angehörige der damaligen Präsidentengarde von Alvaro Arzú vor Gericht gestellt werden, so wie es die Staatsanwaltschaft fordert und dass sie eventuell sogar verurteilt werden. Es heisst ebenso wenig, dass die ehemaligen Verteidigungsminister Espinoza und Barrios Celada oder sogar Alvaro Arzú und sein Bruder Antonio vorgeladen werden. Würde dies tatsächlich passieren, könnte man es als einen wirklichen Versuch der guatemaltekischen Justiz bezeichnen, den Kampf gegen die Straflosigkeit aufzunehmen. Viel grösser ist aber leider die Chance, dass nach ein paar Monaten oder Jahren ganz einfach die Ermittlungen eingestellt werden... womit die Straflosigkeit dann juristisch abgesegnet wäre. Einige JuristInnen sind der Meinung, die Höhe der Strafen widerspreche der offensichtlich schlechten Beweislage und fragen sich, ob dies nicht Absicht des Gerichts gewesen sei, um einer eventuellen Berufung gegen das Urteils zu einer grösseren Chance zu verhelfen. Priester Orantes und die katholische KirchePriester Mario Orantes wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wegen "Mithilfe bei der Planung des Verbrechens" sowie wegen "Nicht-Anzeigen des Verbrechens", womit er die Veränderung des Tatortes zuliess und sich zum Komplizen machte. Einige SpezialistInnen stehen dieser Verurteilung sehr skeptisch gegenüber, da es, wie sie sagen, offensichtlich ist, dass Orantes nicht an der Vorbereitung des Verbrechens beteiligt war. Innerhalb der katholischen Kirche ist man sich offenbar nicht einig, was man vom Urteil gegen Orantes halten soll. Auf die Frage, was die Verurteilung Orantes' für die katholische Kirche bedeute, wollte Bischof Mario Ríos Montt, der Koordinator des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros (ODHA) und Bruder von General Efraín Ríos Montt, keine Antwort geben. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung zog er noch die Möglichkeit in Betracht, dass Orantes sich auch vor einem kirchlichen Gericht zu verantworten hätte. Erzbischof Próspero Penados de Barrios widersprach jedoch dieser Aussage und erklärte, es gäbe keinen kirchlichen Prozess gegen Mario Orantes. Die katholische Kirche akzeptiere das Urteil des weltlichen Gerichts. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass die Schuld Orantes noch überhaupt nicht bewiesen sei. Bis Redaktionsschluss lag noch kein offizielles Kommuniqué der katholischen Kirche vor. Einspruch der VerurteiltenDie Anwälte der verurteilten Militärs und Orantes reichten eine Einsprache gegen das Urteil ein. Ihr Hauptargument sind unter anderem die widersprüchlichen Aussagen des Kronzeugen, Ruben Chanax Sontay. Dieser modifizierte seine Aussage in der Schlussverhandlung dahingehend, dass er jetzt nicht mehr nur ein in der Nähe des Tatortes sich aufhaltender Bettler ist, sondern von den Angeklagten in eine Spionageaktion gegen Gerardi verwickelt wurde und am Tatort selber zugegen war. Nebenbei versuchte er gleich noch den schwächsten Punkt seiner bisherigen Aussagen zu stärken: Er gab in einer früheren Aussage eine Beschreibung von Oberst Lima Estrada ab, die in keiner Weise der Realität entspricht. Ein Grund für seine widersprüchlichen Aussagen waren sicherlich Drohungen gegen ihn, Tatsache ist aber, dass seine Aussagen umstritten sind, was zu einem späteren Zeitpunkt Wind in den Mühlen der Verteidiger sein könnte. Ende gut, alles gut?Neben dem "Fall Hänggi" (der Drogengeschichte des ehemaligen schweizerischen Geschäftsführers von Nestlé), waren die Ermittlungen rund um den Mordfall Gerardi das Thema, das in den vergangenen Jahren Guatemala dazu verhalf, in den (schweizerischen) Medien präsent zu sein. Bei einer Analyse dieser Artikel kann durchaus gesagt werden, dass das Thema Menschenrechtsverletzungen in Guatemala, der REMHI-Bericht und die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, Teil dieser Berichterstattung war. Leider gingen bei all den Lobreden auf die guatemaltekische Justiz hierzulande die kritischen und warnenden Stimmen der Menschenrechtsorganisationen meist unter. Von diesen wird nämlich befürchtet, dass die seit einigen Monaten stattfindenden Bedrohungen und Einschüchterungen von MenschenrechtsaktivistInnen und die Überfälle auf deren Büros nach der Urteilssprechung gegen die drei Militärs und Priester Orantes weiter zunehmen. Verschiedene Organisationen hätten Massnahmen zum Schutz ihrer Mitglieder ergriffen, erklärte Miguel Angel Albizures von der Allianz gegen Straflosigkeit (ACI). Nicht zu Unrecht, wie der (zum Glück misslungene) Überfall auf die Amnesty International-Mitarbeiterin Barbara Bocek beweist (siehe Artikel in diesem ¡Fijáte!) Mit der "Aufklärung" des Mordes an Bischof Gerardi, wird denn wohl Guatemala wieder auf die "letzte Seite" der (schweizerischen) Medien verbannt - es sei denn, es käme zu einer Verhandlung gegen Ríos Montt - oder die richtigen Leute im Fall Gerardi würden doch noch auspacken! |
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