Die Stunde Guatemalas schlägt
Fijáte 291 vom 13. August 2003, Artikel 1, Seite 1
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Die Stunde Guatemalas schlägt
Angesichts der hartnäckigen und schliesslich erfolgreichen Versuche von Ríos Montt, an den Präsidentschaftswahlen vom Herbst teilzunehmen, erscheinen derzeit zahlreiche Artikel über den "General" und die Regierungspartei, die diesen bei seinen Machenschaften treu unterstützt, was sich am vergangenen "Schwarzen Donnerstag" in allen Facetten zeigte. Am 27. Juli wurde der folgende Artikel von Carlos Tárano in La Opion veröffentlicht, der die Vorkommnisse in einen umfassenden Kontext setzt. Dezember 1999: Eine nationalistische, hierarchische, im Armeestil geführte Partei, geleitet von einem alten, messianischen Militär, erreicht den Gipfel ihres Ruhmes: 1,2 Millionen GuatemaltekInnen geben ihr die Erlaubnis, das Land während der nächsten vier Jahre zu regieren. Noch niemals zuvor hatte eine politische Partei in der zweiten Wahlrunde mit einer solchen Menge an Stimmen triumphiert. Die Partei des "blauen Händchens" berührte den Himmel: Sie hatte sowohl die Präsidentschaft als auch die absolute Mehrheit im Kongress inne (Einkammersystem mit 113 Abgeordneten). Auf diese Weise öffneten die BürgerInnen die Tore für den Einzug der Willkür. Vier Jahre nach diesen grandiosen Momenten des Ruhmes sucht die Republikanische Front Guatemalas (FRG), Institution, die nach dem Bild des Generals José Efraín Ríos Montt gemacht ist, verzweifelt die beste Taktik, um sich wieder in einem Wahlpanorama zu positionieren, in dem ihr die Meinungsumfragen keinerlei Hoffnung auf eine Wiederwahl machen. Die Presse kritisierend, in den Wahlveranstaltungen mit Steinen werfend, während es gleichzeitig in zahlreichen Orten ausgebuht wird, schlägt das "Händchen" sich den Weg frei, um sich an der Macht zu halten. So geschah es ganz offensichtlich an jenem, inzwischen schon als "Schwarzer Donnerstag" bezeichneten vergangenen 24. Juli, als Tausende von FRG-SympathisantInnen, die von Abgeordneten und Leuten aus der Führungsetage organisiert waren, in Guatemala-Stadt Panik verbreiteten, ohne dass die zuständigen Autoritäten auch nur einen Finger rührten, um dies zu vermeiden und dabei sogar den Tod eines Journalisten verursachten. Aber, was ist bloss in den vergangenen vier Jahren geschehen, dass sich die Perspektive so radikal gewendet hat? Diese Frage beantwortet der Wirtschaftswissenschaftler Pablo Rodas Martini von der Vereinigung für Sozialforschung und untersuchungen (ASIES) folgendermassen: "In den letzten Jahren musste die FRG nicht auf die Gewalt zurückgreifen, da sie auf Rückhalt in der Bevölkerung zählen konnte. Jetzt, wo ihr die Sympathien entglitten sind, hat sie sich zu einem verletzten Tier gewandelt und schickt ihre Kampfgruppen auf die Strassen. Die faschistische Natur der Partei zeigt sich heute in ihrer ganzen Dimension". In den Wahlversammlungen von Ríos Montt ist es wieder gängig geworden, die wie er selbst und seine Anhänger sie ohne Unterschied nennen "WirtschaftsSuper-Spitze" oder "Oligarchie" zu beschuldigen, für den Grossteil des Leids verantwortlich zu sein, über das sich die GuatemaltekInnen beschweren. Angefangen beim Elend mehr als 60% der 11,3 Mio. EinwohnerInnen leben in extremer Armut über die Steuerflucht, die wirtschaftliche Krise, die Korruption, den Wechselkurs bis hin zum Analphabetismus, werden praktisch alle Probleme "den Reichen" in die Schuhe geschoben, derweil sich die öffentlichen FunktionärInnen jeglicher Verantwortung entziehen. Die FRG hatte 1999 dank ihrer Reden gegen die Reichen fast die absolute Wahlmehrheit erreicht. Dafür verwendete sie die Rhetorik eines populistischen Kandidaten, Alfonso Portillo, der in der Universität von Chilpancingo in Mexiko studiert hat, wo er, wie er behauptet, seinen Abschluss als Anwalt erworben hat, obwohl es keine Unterlagen gibt, die dies bestätigen. In Mexiko sah er sich in den 80er Jahren in einen seltsamen, niemals aufgeklärten Vorfall verwickelt, in dem er zwei Studierende ermordete und vor der mexikanischen Justiz floh, bis der Fall verjährt war und er nicht mehr verhaftet werden konnte. Die Macht "Hier lebt der Präsident, aber der, der regiert, lebt gegenüber", sagte man in Mexiko über die extremistische Führung von Plutarco Elías Calles. In Guatemala herrscht derzeit genau die gleiche Situation mit einem Präsidenten ohne Führung und ohne Macht. Die wahre Macht des Staates liegt in den Händen von Ríos Montt, 77-jährig, pensionierter General, zum Evangelismus konvertiert, Putschist und angeklagt, einer der schlimmsten Verbrecher gegen die Menschenrechte in Guatemala zu sein. Im besten Stil der alten lateinamerikanischen Staatsführer gründet Ríos Montt seine Stärke und Attraktivität für die Massen auf das Bild eines Mannes mit eiserner Hand. So wie er es während der 17 Monate seiner tatsächlichen Regierungszeit in 1982-83 erkennen liess, in der er nicht nur die berühmt-berüchtigten Sondergerichtsbarkeits-Tribunale schaffte, um mutmassliche StraftäterInnen von vermummten RichterInnen zum Tode verurteilen zu lassen, sondern auch für das Ausradieren von 440 Dörfern, der Verhaftung und dem Verschwinden von un- gefähr 50 Tausend Personen und dem Tod von mindestens weiteren 100 Tausend Menschen verantwortlich war. Diesbezügliche Anklagen stammen von nationalen humanitären Institutionen, wie der Gruppe gegenseitiger Hilfe (GAM) oder der Witwenorganisation CONAVIGUA, aber auch von der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú. Internationale Organisationen mit grossem Ansehen, wie das Büro von Washington für Lateinamerika (WOLA), die Interamerikanische Menschenrechts-Kommission (CIDH) und selbst die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) unterstützen diese Klagen. Während die FRG-SympathisantInnen am Freitag, 25. Juli in den Strassen der Hauptstadt Randale gegen PassantInnen und JournalistInnen machten, verschickte die CIDH eine Pressemitteilung, in der sie bestätigte, dass die Teilnahme von Ríos Montt als Präsidentschaftskandidat "eine schwerwiegende Drohung gegen die Konsolidierung des Rechtsstaates, der demokratischen Stabilität und den wirklichen Schutz der Menschenrechte in Guatemala ist." Die eiserne Hand Die Diktatur von 1982-83 war nicht der erste Auftritt des Generals auf der politischen Bühne. Bereits 1974 kandidierte er für die Präsidentschaft im Namen einer Koalition von Gruppen des politischen Zentrums, damals GegnerInnen der herrschenden Militärregime. Nach oben |
Obwohl er an den Urnen triumphierte, wurde ihm dieser Sieg von der in jener Epoche dominierenden Militärspitze entrissen, und zum Tausch gegen sein Schweigen und seine gute Miene zum bösen Spiel, wurde ihm ein diplomatisches Amt in der Botschaft in Spanien vermacht. Erst während seiner tatsächlichen Regierungszeit begann Ríos Montt, seine Vorliebe für den Gebrauch von Macht und den Nutzen von Autoritarismus zu beweisen. Bis zu dem Grad, dass er sich mit dem Oberbefehlshaber der Armee verfeindete, der ihn, überdrüssig der Wankelmütigkeit des Generals, im August 1983 durch einen Staatsstreich von der Macht stiess. Ríos Montt wurde daraufhin einfach nach Hause geschickt, um sich erst einmal zu erholen. Die Verfassung von 1985 war darin bemüht, vorzubeugen, dass die institutionelle Ordnung durcheinander gebracht wird. Deswegen wurde der Charta Magna ein Artikel hinzugefügt, der ausdrücklich den AnführerInnen von Staatsstreichen verbietet, die Präsidentschaft der Republik anzustreben. Auch wenn dabei direkt an Ríos Montt gedacht wurde, gibt es noch drei weitere Militärs in der gleichen Situation. Doch lediglich das Oberhaupt der FRG hatte darauf beharrt, in der Politik weiterzumachen und sich um den höchsten Posten des Staates zu bewerben. Dazu gründete er 1989 die Partei und kämpft seitdem darum, als Kandidat eingeschrieben zu werden, Bemühungen, mit denen er 1990 und 1995 scheiterte. Obwohl er 1999 nachgab, erarbeitete er seit dem Triumph seiner Partei in jenem Jahr eine konsistente Strategie, indem er mit seinen SympathisantInnen die wesentlichen Ämter in Schlüsselinstitutionen besetzte, bestes Beispiel ist das Verfassungsgericht (CC). Diese Strategie erlaubte ihm die Einschreibung, als am vergangenen 14. Juli vier von sieben Richtern des Verfassungsgerichts Ríos Montt Recht gaben. Doch die Freude währte nur kurz: zwei Tage später legte eine vom Obersten Gerichtshof (CSJ) stattgegebene provisorische Berufung die Kandidatur erneut auf Eis und entfesselte den Zorn der FRG und ihrer AnhängerInnen in der Weise, dass der "Schwarze Donnerstag" daraus resultierte. Unzufriedene Gesellschaft Seit 1986 bis heute hatte Guatemala fünf zivile Regierungen nach Jahrzehnten militärischer Diktatur. Doch die Verbesserung der politischen Situation brachte nichts Entsprechendes auf wirtschaftlicher oder sozialer Ebene mit sich. So führt das Land beispielsweise die Liste der lateinamerikanischen Länder bei so harten Indikatoren wie extreme Armut, Analphabetismus, oder Kindersterblichkeit aufgrund völlig vermeidbarer Faktoren an. Selbst Haiti schafft es kaum, diese dunklen Rekorde Guatemalas zu übertreffen. Guatemala ist ein Land mit überwiegend Agrarwirtschaft, in dem sich die Hälfte der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung dementsprechenden Aufgaben widmet und 60% der Bevölkerung in ländlichen Gebieten wohnt. Doch ist der Dienstleistungssektor in der letzten Dekade so stark gewachsen, dass er inzwischen als zweiter Einkommenszweig für die wirtschaftlich aktive Bevölkerung gilt. Während Jahrzehnten haben die Verantwortlichen der nationalen Wirtschaft mit der Stabilität der nationalen Konten geprahlt, aber vergassen zu erwähnen, dass der Preis dafür ein wirtschaftliches Null-Wachstum ist. So bestehen die Haupteinnahmen an Devisen in den familiären Geldüberweisungen (man schätzt 2 Milliarden für 2003), die von den 1,5 Mio. GuatemaltekInnen geschickt werden, die in den USA leben. Auch wenn es stimmt, dass es in Guatemala nie zu einer so dramatischen Krise wie einer Hyperinflation gekommen ist, ist doch das fehlende Wachstum das Ergebnis davon, dass niemals ein ökonomischer Wandel riskiert wurde. Für 2003 bestätigt die Bank von Guatemala (BANGUAT), dass die geschätzte Bevölkerungswachstumsrate von 2,64% das erwartete Ziel des wirtschaftlichen Wachstums übertrifft, das gerade einmal 2% erreichen wird. Das heisst also, dass es jeden Tag mehr BürgerInnen mit weniger Reichtum gibt, den sie miteinander teilen. Folgen davon sind immer mehr Arme daheim und immer mehr ImmigrantInnen in Kalifornien. Die zivilen Regierungen haben wenig dazu beigetragen, diese Situation zu mildern. Der Euphorie über das Ende der Militärregime in 1986 folgte die Ernüchterung der Demokratisierung, zersetzt von der Ineffizienz, der Improvisation und der Korruption. Allein während der aktuellen Regierungszeit der FRG hat die Korruption die GuatemaltekInnen 2 Milliarden US-Dollar gekostet, so die Angaben des Unternehmerverbandes des Landes. Jene Daten finden ihre Korrelation in der Wahrnehmung der BürgerInnenrechte durch die Bevölkerung: die grösste Wahlabstinenz findet sich laut einer Untersuchung des obersten Wahlgerichts (TSE) bei den Jugendlichen. Die Meinungsumfragen zeigen, dass der Mangel an Arbeitsplätzen und die Unsicherheit die Hauptsorgen der GuatemaltekInnen sind. Doch die Korruption der öffentlichen FunktionärInnen und das Nichterfüllen der Wahlversprechen sind ebenso heftige Krebsgeschwüre. Alfonso Portillo ist der zivile Präsident mit dem schlechtesten Image im letzten Jahr seiner Amtszeit (79% der Bevölkerung lehnen ihn gemäss einer in der Tageszeitung Siglo Veintiuno publizierten Umfrage ab). Andere Studien, wie sie von den Zeitungen Prensa Libre, Nuestro Diario und elPeriódico veröffentlicht wurden, enthüllen unterdessen, dass mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten sich angesichts des nächsten Wahlprozesses völlig gleichgültig zeigt. Die Ungleichheit, das Elend und die politische Manipulation haben an das letzte Röcheln der aktuellen guatemaltekischen Regierung Anschluss gefunden. Zusammen stellen sie ein Risiko für den Wahlprozess dar und provozieren Gewalt, besonders gegenüber der Presse, die scheinbar die einzige Prüferin der schlechten Machenschaften der Partei des Generals ist. |
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